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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Bab, Julius: Von den sprachkünstlerischen Wurzeln des Dramas
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0064
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50 JULIUS BAB.

Diesen Dualismus, dies Widereinander zweier entgegengesetzter
Kräfte in jedem Augenblicke spüren zu lassen, das ist die zweite
große Aufgabe der dramatischen Sprache, die nun ebenbürtig neben
die erste: durch Nachbildung des Sprachschöpfungsprozesses Leben
zu suggerieren, gestellt werden muß !). Diese Aufgabe ist es, die den
antithetischen Charakter in die Sprache der großen Dramatiker bringt;
diese antithetische Forderung begründet die Verwandtschaft des drama-
tischen Stils mit dem Epigramm, das fast alle großen Dramatiker in aus-
gezeichneter Weise kultiviert haben. Freilich steht diese dualistische
Spannung der Sprache stets im Dienst des geistig erfaßten Kampf-
problems. Sie ist deshalb die mehr intellektuelle Funktion der dra-
matischen Sprachkunst, und wo sie die mehr sinnliche lebenspendende
überwuchert — da entsteht eine künstlerische Schwäche. Man denke
an Lessing und Hebbel. Daß aber der Mangel dieser antithetischen
Kraft — bei höchster Fähigkeit, den sinnlichen Sprachschöpfungs-
prozeß nachzuahmen — auch ein künstlerisches Manko konstituieren
kann, das bezeugen die Produktionen der »Stürmer und Dränger«.

Aus der dualistischen Natur der dramatischen Sprache wäre nun
zum guten Teil alles abzuleiten, was über den äußeren Aufbau des
Dramas zu sagen ist, denn jenes Gesetz des Zweitakts, das die einzelne
Wechselrede organisiert, muß auch der Szene, dem Akt, der ganzen
dramatischen Komposition die Form geben. Aber damit kämen wir
dann schon in die höhere Verzweigung der sprachkünstlerischen
Wurzel des Dramas und außerhalb des uns hier vorgezeichneten Um-
kreises.

Was wir innerhalb dieses Kreises fanden, das möchte ich noch
einmal so zusammenfassen:

Das Drama ist als Sprachkunstwerk faßbar, sobald wir als das
zündende Erlebnis des dramatischen Dichters gefühlsmäßige Ergriffen-
heit durch das Wesen des zu praktischem Zweck sprechenden Men-
schen erkennen. Dies Wesen aber wird darstellbar, wenn der Dichter
den Sprachschöpfungsprozeß unter Durchhalten eines dualistischen
Grundtakts darzustellen vermag.

') Die Fähigkeit, diesen Dualismus zu hören und rein wiederzugeben, setzt nun
freilich ganz bestimmte menschliche und geistige Eigenschaften des Dichters voraus;
aber diese philosophischen Vorausgesetztheiten des Künstlers scheinen mir für eine
kunstwissenschaftliche Untersuchung des Werkes nur ganz sekundär in Be-
tracht zu kommen. Dies ist gesagt wider die neuklassische Ästhetik, die direkt
aus dem Ethos des Dichters die dramatische Form erklären will.
 
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