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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Goldschmidt, Hugo: Die konkret-idealistische Musikästhetik im 18. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0474
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468 BEMERKUNGEN.

Die konkret-idealistische Musikästhetik im 18. Jahrhundert.

Von

Hugo Goldschmidt.

Neuere historisch-kritische Übersichten über die moderne Musikästhetik — ich
denke vor allem an das verdienstvolle Buch Paul Moos'') — sehen in dem Dänen
Örsted den Ästhetiker, der »das Prinzip des konkret-ästhetischen Idealismus zum
ersten Male in seiner ganzen Tragweite auf die Musik angewendet« habe (Moos).
Einzelne Wendungen bei Heinse2) legten mir nahe, die Grundlegung zu dem
Gebäude der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert zu suchen. Zunächst bestanden
für mich noch keine Zweifel an der Originalität von Heinses aphoristischen Bemer-
kungen, die in die Herrschaft des französischen Rationalismus Bresche legten3).
Später stiegen mir Zweifel an ihr auf, und ich vermutete den Einfluß Herders, der
auch tatsächlich hie und da stattgehabt haben mag. Nunmehr glaube ich aber die
erste Quelle gefunden zu haben, die er benutzt hat. Die literarische Unsitte des
Verschweigens der benutzten Hilfen, die stillschweigend geduldete Sünde des Pla-
giats erschweren ja für diese Periode die Feststellung des letzten Ursprungs un-
gemein. In unserem Falle aber haben wir mit einem offenbar ehrlichen Schriftsteller
zu tun, der in der Vorrede seines Werkes gerade in dem ausgesprochenen Wunsche,
dem Verdachte wissentlichen Verschweigens seiner Quellen zu entgehen, sie an-
führt. Der Titel des Werkes ist: Observations sur la musique et principalement sur
la me'taphysique de Part, Paris 1779, auf Grund der auf der letzten Seite reprodu-
zierten Lizenz allgemein dem Chabanon zugeschrieben.

Die Vorrede flößt Vertrauen ein. Er versichert, seine neue Lehre lange zurück-
gehalten und mehr als 25 Jahre ständigen Nachdenkens an sie verwendet zu haben.
Bewußt, aber nicht überhebend glaubt er aussprechen zu dürfen, er könne im
einzelnen fehlgegangen sein, sei aber sicher, im wesentlichen die Wahrheit ge-
funden zu haben. Und das darf ihm in der Tat zugestanden werden: mit dem
altfranzösischen Rationalismus und der Nachahmungstheorie hat er gründlich auf-
geräumt und die Grundlagen für die heute herrschende konkret-idealistische Lehre
gelegt, wenn auch noch nicht bis in die Einzelheiten ausgebaut.

Der blinde Glaube an die »facultas rationelles« des La Motte-Houdard, Pluche,
Dubos und Boileau, an die Unterwerfung der Kunst unter die Gesetze des Ver-
standes, jene ■ esthetique objective*, wie sie Ecorcheville4) nennt, hatte sich in Frank-
reich fast unwidersprochen bis in die siebziger Jahre behaupten können. Selbst
feine Köpfe, wie der Ästhetiker Morelet"), die an der Nachahmungstheorie bereits
zu rütteln begonnen hatten, konnten sich doch noch nicht gänzlich von dem Ratio-
nalismus der Rcgence-Periode lossagen. Ja noch 1785, nach Glucks Erfolgen in
Frankreich, vermochte selbst ein so guter Kenner der Oper, ein so einsichtsvoller
Schriftsteller wie Cepede6), den Grundgedanken dieser Ästhetik noch nicht aufzu-

') Moderne Musikästhetik in Deutschland.

-) Hildegard von Hohenthal und Nachlaß.

3) Vgl. meinen Aufsatz »Wilhelm Heinse als Musikästhetiker« in der Riemann-
Festschrift, Leipzig 1909, S. 10 ff.

*) De Lullt ä Rameau 1690—1730, Esthe'tique musicale.

5) De Vexpression en musique, abgedruckt im Mercure de France von 1771. Die
Abhandlung ist 1759 in Mailand geschrieben.

c) La poe'tique de la musique.
 
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