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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Kessler, Lina: Hippolyte Taines Kunstphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0343
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VIII.

Hippolyte Taines Kunstphilosophie.

Von

Lina Keßler.

In der Vorrede zu seiner Übersetzung von Taines Kunstphilosophie
aus dem Jahr 1902 sagt E. Hardt: »Die Kunstphilosophie des Hippo-
lyte Taine bedeutet den tiefsten Vorstoß und die sicherste Eroberung,
welche bisher die Wissenschaft im Gebiet der Kunst hat machen
dürfen.« — Daß Taine als Kunsthistoriker Verdienste hat, bleibe
hier unwidersprochen. Sie beruhen besonders auf konsequenter Durch-
führung der Methode, welche zur Erklärung des Kunstwerks nicht die
Individualität des Künstlers, sondern das auch den Künstler erklärende
Milieu und die nationale Eigenart verwendet, und auf der selbst künst-
lerischen Meisterschaft nachempfindender Darstellung, mit welcher
diese Methode von Taine gehandhabt wird. Als Kunstphilosoph
könnte Taine zur Bestätigung seiner eigenen Grundsätze in Anspruch
genommen werden: er gibt eine Kunstphilosophie, hervorgegangen
aus dem Milieu und echt französisch. — Wenn diese im allgemeinen
kunstarme, poetisch unfruchtbare, materialistisch glaubenslose, meta-
physikfeindliche, von den Erfolgen der Naturwissenschaften geblendete
Zeit in Taine einen Philosophen erzeugt hätte, der das Wesen der
Kunst zu durchdringen vermochte, so würde der Kunstphilosoph Taine
die Grundsätze des Kunsthistorikers Taine zuschanden gemacht haben.
Es würde eine Tainesche Ästhetik sein, die nicht nach Taine ausge-
fallen wäre. So ist es aber nicht. Darauf deutet schon die Ein-
schränkung, welche der Dichter Hardt sich gedrungen fühlt, auf das
obige Lob folgen zu lassen: »Die goldenen Tore aber, hinter denen
ein jedes Kunstwerk sein Eigentlichstes und Allerinnerstes verbirgt,
hat auch dieser Geist nicht zu sprengen vermocht. Denn jene Tore
öffnen sich nur der Seele, wenn sie einsam kommt und in sich selbst
einen Keim der Schönheit mitbringt, zu der sie nun betend vordringen
will.« — Daß der Kunstphilosoph den Kunsthistoriker nicht wider-
legt, wird sich, hoffe ich, in den nachfolgenden Auseinandersetzungen
mit Taines Ästhetik weiter zeigen.

Diese wird vorgetragen in der Philosophie de VArt aus dem Jahr

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. VI. 22
 
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