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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Kessler, Lina: Hippolyte Taines Kunstphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0344
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338 LINA KESSLER.

1865, welche wieder den ersten Teil des größeren gleichnamigen
Werks aus dem Jahr 1881 bildet, und in dessen Schlußteil: De VIdeal
dans VArt. In der erstgenannten Schrift wird zunächst die Natur des
Kunstwerks und dann die Art seiner Produktion erörtert. In der
größeren Schrift wird noch eine Rangordnung der Kunstwerke auf-
gestellt nach dem Vorhandensein und Zusammentreffen gewisser
Charaktere.

Hier wird zunächst der erste Teil der Philosophie de VArt aus dem
Jahr 1865 berücksichtigt werden, dann l'Ideal dans VArt und schließ-
lich das über die künstlerische Produktion Gesagtea).

Caractere essentiel von Taines Kunstphilosophie ist die engste Ver-
bindung bis zur Gleichsetzung von Kunst und Wissenschaft, ins-
besondere beschreibender Naturwissenschaft. Da für ihn das Wesen
des Kunstwerks darin besteht, de manifester un caractere essentiel
(I, 63), so ist er bei seiner Gleichsetzung von Kunst und Wissen-
schaft vorzüglich an die Wissenschaften der vollendeten Klassifikation,
an Botanik und Zoologie gewiesen. Sieht man das Wesen der Wissen-
schaft nicht schon in der klassifizierenden Kennzeichnung, sondern
erst in dem Nachweis kausaler Zusammenhänge, dann kommt auch
bei Taines Auffassung von Kunst die rechte Wesensverwandtschaft
mit der Wissenschaft nicht heraus. Wie er denn auch da, wo er seine
eigene Wissenschaft mit der Botanik vergleicht (I, 22), nicht an deren
Klassifikationen, sondern an die von ihr beobachtete kausale Abhängig-
keit der Pflanzen von Klima, Standort usw. denkt.

Für den ihm so wichtigen Begriff des caractere essentiel (funda-
mental, elementaire, important) verweist Taine gleich anfangs auf die
zoologische Charakterisierung des Löwen (I, 52): »Der Grundcharakter
des Löwen, welcher ihm in den naturgeschichtlichen Klassifikationen
seinen Platz anweist, ist Fleischfresser zu sein. Sie werden sehen,
daß sich beinahe alle Züge, seien sie physischer oder moralischer
Natur, aus diesem Grundcharakter wie aus einer Quelle ableiten lassen.
Im Physischen zunächst die Reißzähne, ein zum Zermahlen und Zer-
reißen gemachter Kiefer. — Weiter sind auch alle moralischen Eigen-
tümlichkeiten damit in Übereinstimmung: zunächst der instinktive Blut-
durst, das Bedürfnis nach frischem Fleisch.« — Ein anderes Beispiel
entnimmt er der Erdbeschreibung. Caractere essentiel der Niederlande
ist: »durch Anschwemmungen gebildet zu sein.« Damit werden, ähn-
lich wie bei dem Löwen mit dem Umstand, daß er ein Fleisch-
fresser ist, alle einzelnen Züge in Verbindung gebracht. So hat denn

') Bei Zitaten aus der Philosophie de VArt 1865 ist der Seitenzahl eine I, bei
denen aus der Philosophie de VArt 1881 eine II vorgesetzt worden.
 
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