Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

DOI Artikel:
Goldschmidt, Hugo: Die konkret-idealistische Musikästhetik im 18. Jahrhundert
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0475
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BEMERKUNGEN. 45g

geben. Man muß das berücksichtigen, um die Bedeutung des Chapitre premier
unseres Buches zu würdigen. Schon die Überschrift ist bezeichnend.

Wie weit und worin darf die Philosophie sich mit der Kunst befassen? Jedes
Kunstwerk, wird ausgeführt, entsteht aus einer inneren Eingebung, an der weder
Intelligenz noch reales Gefühl Anteil haben: »Ceux qui les inventent (sc. les arts)
et les pratiquent avec succes sont entraine's par un senüment interieur, dont eux-mcmes
ils n'ont qu'une connoissancc confuse.« Die Schöpfung alles Schönen ist ihm also
ein Werk der Phantasie, etwa im Sinne Fechners, nicht etwa in demjenigen der
platonischen Intuitionslehre ').

Er folgert nun weiter: Die Philosophie kann für die Kunst nur eine sekundäre
Rolle spielen. Die erste gebührt der schaffenden Phantasie (instinct cre'ateuij dem
gegenüber der Verstand (l'esprit) nur ein schwacher Schüler ist. Mithin ist es also
nicht die Aufgabe der Ästhetik, der Kunst Gesetze zu geben, sondern sie in der
gewonnenen Gestaltung betrachtend vor Abirrungen zu bewahren und sie in neue
Gleise zu leiten — eine Aufgabe, die sie tatsächlich im Laufe der letzten Jahr-
hunderte mehr als einmal erfüllt hat; so wenn im ausgehenden 16. Jahrhundert der
Humanismus den musikalischen Fachmann zur Subjektivität führte, indem er den
Einzelgesang, die Oper, das Oratorium ins Leben rief, so wenn die Literaten des
18. Jahrhunderts durch das Desiderat einer stärkeren Betonung des Dramatischen
in der Oper zum italienischen Risorgimento (Jommelli, Traetta) und Gluck zu jenen
Meisterwerken anregten, auf denen das neue Musikdrama basiert. Eine zweite, ihre
eigentliche, Aufgabe aber sieht die Philosophie darin, die Leute von Geschmack
über die Ursachen ihres Vergnügens an der Musik zu unterrichten (»instruire les
gcns de goiit sur les diffe'rentes causes de leur plaisir*). So betrachtet ist ihm die
Theorie der Künste die Theorie de nos sensations les plus de'licates«, die Theorie
unserer ästhetischen Gefühle :). Sie untersucht unser psychisches Verhalten in Be-
ziehung auf unsere Sinne, die uns Lust oder Unlust übertragen, *il (le philosophe)
contemple notre äme corrcspondante avec nos sens qui, ministres de ses affections, lui
apportent le plaisir et la douleur*. Welcher Art nun diese Beziehungen der Musik
zum Gefühlsleben sind, was er vorzüglich unter .sensations«, den ästhetischen Ge-
fühlen versteht, erfahren wir erst auf einem Umweg. Der Autor muß zunächst zur
Nachahmungstheorie Stellung nehmen. Morelet5) hatte bereits das Axiom durch den
Hinweis auf die Tatsache erschüttert, daß eine treue Nachahmung des Nachtigallen-
gesanges durch eine Kinderklarinette gar keinen Eindruck hervorrufe, wohl aber
eine Symphonie, die ihn nur unvollkommen nachmache, und daraus gefolgert, daß
die Musik nicht streng nachahme, sondern nur annähernd, daß sie vielmehr stili-
siere, und daß ein Pakt bestehe zwischen der Seele und denjenigen Sinnen, auf die
die Musik einwirke. Er kam also bereits dazu auszusprechen: -Ocst que les arts«
— also die Künste —, »sont qiielque chose de plus que Vimitation exacte de la nature«.
Chabanon knüpft an diese Ausführungen an. Er geht von dem Begriffe Musik als
einer Folge nach bestimmten Regeln verbundener und von dem Ohre mit Lust auf-
genommener Töne aus (Melodie), stellt fest, daß sie in diesem Sinne auf Kinder
und Tiere wirke, daß die Musik der Völker niedriger Kultur durchaus keinen An-
satz zur Nachahmung äußerer Vorgänge zeige, ja daß sie nicht einmal dem Cha-

') Vgl. hierzu Kreibig, Beiträge zur Psychologie des Kunstschaffens IV, 532
dieser Zeitschrift.

'-') Der Begriff »Sensation« bezeichnet nach einer anderen Stelle (S. 69) das
ästhetische Gefühl, im Gegensatze zum realen, das »Sentiment« heißt.

3) a. a. O.
 
Annotationen