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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Lange, Konrad: Das Problem des Passionsspiels
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0066
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62 KONRAD LANGE.

Was zunächst die Beobachtung anderer betrifft, so wird allgemein
zugegeben, daß die Wirkung auf die Landleute der Umgegend in der
ersten Aufführung eine ganz andere war als auf die Städter, die später
das Gros der Besucher bildeten. Und selbst bei diesen konnte man,
wie die Zeitungskritiken beweisen, eine ganz auffallende Verschieden-
heit des Urteils bemerken. Dabei liegen die Dinge keineswegs so,
daß man einfach sagen könnte: die Bewunderer das sind die Laien,
die Vielzuvielen, die nichts von Kunst verstehen, die Tadler dagegen
das sind die Kunstkenner, die literarischen Geschmack haben und
wissen, was man von einer Bühnenaufführung verlangen kann. Ich
kenne vielmehr sehr geistvolle und feinfühlige Kunstliebhaber, die das
Passionsspiel aufs höchste bewundern, und habe auch wieder von
gebildeten und sonst toleranten Kritikern sehr ungünstige, ja durchaus
ablehnende Urteile gehört.

Was aber die Selbstbeobachtung betrifft, so war mir das Wunder-
barste, daß ich an mir selbst eine ganz zwiespältige Wirkung beob-
achten konnte. Einzelnes gefiel mir nicht nur sehr, sondern packte mich
sogar gewaltig, erschütterte mich aufs höchste. Anderes dagegen ließ
mich völlig kalt, ja stieß mich geradezu ab. Und diese Wirkung stand
im umgekehrten Verhältnis zu der Tragik der betreffenden Szenen. Die
furchtbarsten, grausigsten Vorgänge verfehlten völlig ihre Wirkung, und
ruhige beschauliche Szenen rührten mich zu Tränen. Ich konnte mir
dies anfangs nicht erklären und mißtraute deshalb meinem Urteil.
Ein Protestant wird ja, wenn er unbefangen denkt, in solchen Fällen
immer ein gewisses Mißtrauen gegen sich haben. Fehlen uns Nicht-
katholiken nicht doch die Voraussetzungen, die zum Verständnis eines
kirchlichen Schauspiels nötig sind? Ich meine nicht die religiösen
Voraussetzungen, denn die sind ja auch bei uns vorhanden, sondern
die kirchlichen, die Voraussetzungen der kirchlichen Tradition? Man-
ches scheint dafür zu sprechen. Ich habe wenigstens gefunden, daß
gebildete Katholiken im allgemeinen günstiger über Oberammergau
urteilen als Protestanten. Das hängt natürlich mit dem sinnlicheren
Bedürfnis der katholischen Gemeinde, mit dem anschaulicheren Cha-
rakter des katholischen Gottesdienstes zusammen.

Allein das ist ein Unterschied, über den wenigstens ein Kunst-
historiker leicht hinwegkommen sollte. Wir sprechen ja auch den
Katholiken kein besseres Verständnis der mittelalterlichen Malerei zu
als uns. So können wir uns auch ganz gut in das religiöse Bedürfnis
versetzen, aus dem die Passionsspiele hervorgegangen sind. Unser
Urteil geht vielmehr geradezu von diesem religiösen Bedürfnis aus,
stellt sich also in dieser Beziehung ganz auf den Boden der katho-
lischen Weltanschauung. Wenn trotzdem unser Urteil von dem der
 
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