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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Waser, Maria: Form und Stil in der bildenden Kunst und die ästhetische Lust
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0104
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100 MARIA WASER.

die schnelle, bisweilen in eine leichte Spirale auslaufende Wellenlinie
und die eigenartige konzentrisch verschlungene Wellenschleife, die im
Zusammenhang der Formen das Vielgestaltige geistreich zu verbinden,
das Gesammelte reizvoll zu verwirren weiß. Eine große Kraft kommt
auch in Leonardos Linie zum Ausdruck, allein keine kampfvolle Kraft
mit Hemmungen und Gewaltsamkeiten, sondern eine wundervoll reiche,
allseitig wirkende. Wir erkennen in dieser Linie die Gebärde eines
Menschen, der keine Ruhe, kein Verweilen kennt, dessen lustvolle
Kraftentfaltung in der Fülle des Lebendigen liegt, dem es höchstes
Bedürfnis ist, alles Leben zu umfassen, die geheimnisvollen Zusammen-

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Leonardos Schrift (links und oben rechts) verglichen mit Zügen und Kurvenfolgen aus

Shakespeares Schrift (rechts unten).

(Eigene Zusammenstellung.)

hänge aufzudecken, alle Erscheinungen auf den gemeinsamen Ursprung
zurückzuführen.

Für Raffael sind die leicht dahingleitenden, das Zentrum fliehenden,
in kampflosem Spiel sich auswirkenden Linien charakteristisch. In
ihnen drückt sich eine Kraft aus, die weder Kampf noch Überwinden
noch verwirrende Lebendigkeit kennt, sondern nur ein glückliches, dem
inneren Triebe ungestört folgendes Sichausleben. Raffaels Linie hält
die Gebärde eines Menschen fest, für den es kein strenges Pflicht-
gesetz, keine engenden Schranken, kein Ringen gibt, der keine rück-
sichtslosen Kräfte zu bändigen, keinen schrankenlosen Freiheitsdrang,
keine unersättliche Lebenslust zu zügeln hat, weil Klarheit und heiter-
lebendige Ruhe ihm höchstes Bedürfnis bedeuten.

Als ich mit der aus dem Studium von Zeichnung und Schrift er-
worbenen Kenntnis der Gebärdenlinien verschiedener Meister wiederum
 
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