Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

DOI Artikel:
Jantzen, Hans: Die Raumdarstellung bei kleiner Augendistanz
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0127
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BEMERKUNGEN. 123

Delfter Vefmeer wird dieser Kontrast der Größenbilder dadurch verschärft, daß er
sich auf zwei Figuren beschränkt, von denen die eine dicht in die vordere Ecke
gedrängt wird.

Bei Jan Vermeer zuerst innerhalb der neueren Malerei treten die Probleme
kleiner Distanzannahme in aller Schärfe auf, und zwar in ihrer Anwendung auf den
Innenraum. Die ältere Malerei gab den Innenraum stets bei größerer Distanz als
Fernraumbild in dem von Cornelius geforderten Sinne. Seit der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts sind dann die Probleme kleiner Distanz nie ganz verschwunden
und finden sich im modernen Impressionismus auch auf den Außenraum übertragen.
Zugleich erscheinen neue Wirkungsmöglichkeiten. Während bei Jan Vermeer die
kleine Distanzannahme in erster Linie einer Intensivierung der Raumwirkung dient,
wird sie im modernen Impressionismus zu einer Effektsteigerung überhaupt benutzt.
Dies geschieht dadurch, daß die Kontraste der Größenbilder nun nicht mehr in erster
Linie als Raumdaten empfunden werden, sondern als Kontraste »um ihrer selbst
willen« sprechen. Zuerst wirkt das Abrupte, das Verblüffende, dann erst die räum-
liche Beziehung. Ein Beispiel dafür mag ein Gemälde von Edgar Degas geben:
das Ballett. Hier wird ein Drittel des Bildes, die vordere rechte Ecke, vollständig
ausgefüllt von einem halben Zuschauerkopf mit einem riesigen Fächer. Zu dem
Kopf kontrastiert in der Bildmitte die Figur einer einzelnen Balletteuse, während
die obere linke Ecke eine ganze Gruppe Tänzerinnen aufnimmt.

Diese Art, die Kontrastwirkung schlechthin als Bluff zu benutzen, führt schließ-
lich zu einem dritten Fall der Anwendung kleiner Augendistanz in der Karikatur.
Die kleine Distanz wird hier ihre auffälligste Wirkung erreichen, sobald sie an einer
Einzelfigur, die sich natürlich durch verschiedene Raumschichten erstrecken muß,
zur Darstellung gebracht wird. In einer Zeichnung von Rudolf Wilke (siehe Tafel II)
sehen wir einen Amerikaner im Nahraumbild, wie er uns seine klotzigen amerika-
nischen Stiefel ins Gesicht streckt, während Kopf und Zylinder in der zurückliegen-
den Raumschicht verschrumpfen. (Die Kontrastwirkung erscheint am stärksten, wenn
man die Zeichnung verkehrt herum betrachtet.)

Schließlich sei noch kurz auf die Erscheinungen der Plakatkunst verwiesen, die
in engster Beziehung zur Raumdarstellung bei kleiner Distanz stehen. Diese Er-
scheinungen charakterisieren sich im wesentlichen durch die Absicht auf Durch-
brechung der Bildebene, geradeswegs gegen den Beschauer hin. Die Beispiele sind
bekannt genug. Lokomotiven, die auf breitem Schienenweg gegen den Beschauer
heranbrausen, aus dem Bilde herausspringende Pferde, ein Automobil, das sich
schon im Nahraum des Beschauers befindet, so dicht, daß man Gefahr läuft, über-
fahren zu werden usf. Der Art sind die auffallendsten Mittel.

In allen Fällen, wo wir die Verwendung kleiner Distanzannahme fanden, handelt
es sich um eine Kunst, die auf Intensivierung bestimmter Bildeindrücke ausgeht.
Jeder klassische Stil dagegen, der harmonische Raumabstufung anstrebt und alle
Heftigkeiten vermeidet, meidet auch die kleine Augendistanz.
 
Annotationen