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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0136
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132 BESPRECHUNGEN.

deren wir die Natur mit künstlerischen Vorbildern vergleichen, also gewissermaßen
Kunstwerke in die Natur hineinsehen, so daß wir »von einem Titian-, Velasquez-,
Rembrandt- oder van Dyck-Kopf« — oder, hätte der Verfasser hinzufügen können,
von einer Claude-Lorrainschen, einer Ruysdaelschen Landschaft — sprechen. Da
Schubert-Soldern zu den Umkehrungserscheinungen auch die Tatsache rechnet, daß
die Gewöhnung an eine bestimmte Kunstweise uns in der Natur nur diejenigen
Züge ihres Gesamtbildes sehen läßt, welche diese Kunst zur Anschauung bringt,
daher eine neue Kunst, die andere Züge heraushebt, uns unwahr, naturwidrig er-
scheinen muß, so leiten ihn diese Phänomene auf die allgemeine Rolle der Ge-
wohnheit in der Kunst über und auf den Wechsel im Kunstgeschmack unter dem
Einfluß der Gewöhnung und Abstumpfung, und das führt ihn wieder zur kausal
bedingten Entstehung und Weiterbildung der Künste. Mit einem raschen Streifblick
auf die Ziele der genetisch-kausalen Kunstwissenschaft, welche insbesondere auch
die in den Stilbegriffen bloß als Fakta aufgefaßten Einheiten zu erklären hätte, be-
schließt er seine Untersuchung.

Das Gesamturteil über die Arbeit, soweit es nicht schon aus den ins voran-
stehende Referat eingeflochtenen kritischen Einzelbemerkungen erhellt, läßt sich
hiernach mit wenig Worten aussprechen. Ohne Frage bringt die Annahme eines
einzigen kunstästhetischen Prinzips (intellektuelle Lust des Erkennens der Einheit
in der Mannigfaltigkeit) eine so abstrakte Fassung desselben mit sich, daß es un-
möglich der ganzen Fülle des künstlerischen Lebens auch nur nach dessen rezep-
tiver Seite gerecht werden kann. So interessant der Versuch ist, die Wirkung der
ansprechenden formalen Komposition und die der glücklichen Charakteristik unter
ein und dieselbe Formel zu bringen, so wenig ist es doch Schubert-Soldern ge-
lungen, die Ungleichartigkeit der in Frage kommenden Kunsteffekte damit zu be-
seitigen, und es ist vielleicht das größte Verdienst seiner Schrift, daß sie durch ihre
klare, schlichte Darstellung die Ergänzungsbedürftigkeit des Prinzips mit großer
Deutlichkeit sichtbar macht und zur schärferen Bestimmung jener Ungleichartigkeit
antreibt. Infolge des Vorurteils, daß alle ästhetischen Gefühle intellektuelle seien,
kommen natürlich die sinnlichen und die affektiven Quellen des Kunstgenusses zu
kurz. Für diese wichtigen Faktoren hat das Prinzip des Verfassers keinen Raum
und es könnte daher nicht wundernehmen, wenn er in der Tat rein sinnliche Farben-
wirkungen — die wohlgefälligen Triaden z. B. wären im Gegensatze zur Mero-
chromie oder zu den kleinsten Intervallen solche des intellektuellen Einschlags gänz-
lich ermangelnde Effekte — als Formen intellektueller Lust betrachtete. Wie nun
diese Einseitigkeit besonders vom Standpunkte der analytischen Psychologie be-
denklich ist, so wird der Fachpsychologe auch durch andere Aufstellungen Schubert-
Solderns einigermaßen befremdet. Die Parallelisierung der Ausführung einer künst-
lerischen Idee mit dem deduktiven und der Gewinnung des Totaleindrucks vom
Kunstwerk mit dem induktiven Verfahren — eine Parallelisierung, die S. 36 bis zu
förmlicher Identifikation geht — übersieht bedeutsame Verschiedenheiten, und der
eigentümliche Assoziationsbegriff, mit dem der Verfasser zu operieren scheint, so
daß unmittelbare Wahrnehmung räumlich oder zeitlich aneinander grenzender Ge-
bilde eine Kontiguitäts-, die Auffassung von Ähnlichkeiten in den zu gleicher Zeit
den Sinnen dargebotenen Dingen eine Ähnlichkeitsassoziation wäre, weicht von dem
in der Psychologie gebräuchlichen Assoziationsbegriffe sehr auffallend ab, — ohne
daß die Abweichung hervorgehoben würde, wie z. B. in meiner Studie »Der Satz
des Epicharmos« im Falle einer ähnlichen Begriffserweiterung geschehen. — Alle
die hier angemerkten Schwächen zerstören indes nicht den Wert der Arbeit, die
mit ihrer ungekünstelten, frischen, lebendigen Sprache und ihrer nicht sehr reichen,
 
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