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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0138
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134 BESPRECHUNGEN.

wichtigsten Tendenzen dieser literarischen Strömung. Aber mit diesen und vielen
anderen Widersprüchen halte ich Croce nicht für erledigt.

Es ist zunächst eine symptomatische Gestalt von großer Bedeutung. In diesem
Sinn hat ihn soeben Irving Babbitt in seinem »New Laokooiv (S. 223 f.), durchaus
abwehrend, dargestellt und mit Lipps verglichen. Aber es scheint mir doch nicht
richtig, bei »Signor Croce« nur das Negative zu beachten, gerade wie es erst bei
Nietzsche geschah, und zum Teil noch geschieht. Es handelt sich nicht um einen
dogmatisch-revolutionären Impressionisten wie Julius Hart, sondern gerade das
Streben nach einer ästhetischen Evidenz scheint mir der Hauptzug in Croces
großartig konsequentem Wirken. »Wahre historische Interpretation und wahre ästhe-
tische Kritik sind eins« (S. 43) — das ist sein Fundamentalsatz. Die bloß historische
Betrachtung, die er besonders an der deutschen Schule bekämpft (S. 78) — übrigens
durchaus kein Germanophobe, sondern gewissen Seiten Hegels ein leidenschaftlicher
Prophet, und vor allem in seine universale Sachkenntnis die Baumgarten, Herbart,
Steinthal, Wundt vollkommen hineinbeziehend —, scheint ihm das spezifisch Ästhe-
tische (vgl. z. B. S. 111) ebenso sehr zu verfehlen, wie die vor allem bei neueren
Italienern bekämpfte rein ästhetische Würdigung das Individuelle vergewaltigt. Um
also zu einer wissenschaftlichen Erfassung zu gelangen, stellt er die Theorie auf:
jedes Kunstwerk ist der Ausdruck eines bestimmten Eindrucks und hat seinen Wert
je nach der Vollkommenheit, mit der dieser Eindruck wiedergegeben ist. Aufgabe
der Ästhetik ist es also nach der historischen Seite, den grundlegenden Eindruck
zu ermitteln, nach der (in unserem Sinn) ästhetischen, den Ausdruck zu beurteilen.
Überall kommt es also auf individuell Geistiges an. In diesem Sinn stellt sich der
Verehrer Wilhelm v. Humboldts und Freund Karl Voßlers zu dem americanizzantc
professore tedesco Wundt (S. 189) in den lebhaftesten Gegensatz.

Von hier aus ist auch seine Abneigung gegen die psychologische Methode
überhaupt zu verstehen. Da er abstrakte Tendenzen wie »Humor« (vgl. S. 276 f.)
oder »Pathos«, abstrakte Gattungen wie »Epos« oder »Drama« überhaupt leugnet,
so schiebt er die Besprechung von Geistesdispositionen, die zu dieser oder jener
Ausdrucksform nötigen mögen, auf die Hilfswissenschaft ab. Im gleichen Sinn be-
handelt er (S. SO f.) die Stoffgeschichte ironisch, da es kein abstraktes »Motiv« gebe,
betrachtet er die Frage nach der Ursprache als abstrakter erster Ausdrucksweise
(S. 198 f.) als philosophisch wertlos — wie er denn ebenso (S. 190) die Univer-
salsprache ablehnt; in diesem Sinne erklärt er (S. 177 f.) die Lautgesetze für die
praktische Durchführung eines prinzipiellen Irrtums — was nicht so paradox ist
wie es scheinen mag. Vor allem aber macht er (z. B. S. 148 f., 463) Front gegen
jede Einführung nichtliterarischer Gesichtspunkte in die Behandlung der Literatur.
Und hier ist viel von seiner Strenge zu lernen.

Allerdings geht er ja überall von seinem eigenen Standpunkt aus, wie er denn
(S. 401) von jedem eine klare Definition verlangt. Wir würden z.B. sagen: das
Aufsuchen der Quellen (S. 442) ist selbst für die »Lehre vom Ausdruck« wichtig,
weil erst sie die poetisch fruchtbaren Eindrücke verständlich machen. Aber Croce
glaubt mit dem Nacherleben des Eindrucks eine genügende Grundlage für die Be-
urteilung zu besitzen.

Hier streifen wir übrigens gleich die zweite Haupttendenz des Buches. Croce
ist bei all seiner strengen Dogmatik doch nebenbei leidenschaftlicher Patriot. Seine
Ästhetik nicht bloß auf Italiener, sondern speziell auf Neapolitaner (Vico und
De Sanctis) zurückzuführen, beglückt den sonst originalitätsstolzen Mann. In
einem Grafen Montani von Pesaro (S. 354 f.) den ersten Verkünder des »Nach-
fühlens« zu entdecken oder (S. 371 f.) italienische Einflüsse auf Bodmer und Brei-
 
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