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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0140
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136 BESPRECHUNGEN.

»Liedern der Liebe« die zarten mittelhochdeutschen Nachbildungen des Hohen
Liedes anders als in ihrem Urtext1), allerdings mit erläuternden Fußnoten, dem
Publikum darzubieten. Herders Standpunkt wird von vielen geteilt. Man verlangt
ein Zurückdringen zur Ursprache von jedermann, der die Kunst der mittelalterlichen
Dichtung will lieben lernen, und man ist bereit, dem Verständnis durch Anmer-
kungen und Glossare zu Hilfe zu kommen. Jakob Grimm, in seinen Zugeständ-
nissen weiter gehend, will eine Art der Übersetzung gelten lassen, nämlich: »auf-
richtig der poetischen Form entsagen und in ungebundene Rede übertragen«.
(In derselben Richtung äußert sich Goethe über das Nibelungenlied.) Tieck gegen-
über ist er duldsam genug, auch die metrische Form zu billigen. Franz Pfeiffer, der
die »kahlen, aller Erläuterung baren Ausgaben« der Lachmann-Hauptschen Schule
für die Quelle der sprachverderbenden Übersetzungen hält, geht so weit, die Mög-
lichkeit einer auch nur erträglichen Übertragung schlechthin zu leugnen. Aber auch da,
wo eine Übersetzung anerkannt wird, wie Simrocks Walter von der Vogehveide —■ wo
selbst gesagt wird: was auf dem Wege des Übersetzens geleistet werden könne, das
sei hier geleistet worden, — überall scheint der Grundglaube durch: besser in jedem
Falle, zum Original zurückzugreifen. Niemand wird dem widersprechen wollen, am
wenigsten die, welche selbst Übersetzungen geliefert haben. Wilhelm Müller wünscht
seinen »schwachen Nachklängen« einen schnellen Untergang, wenn nur durch sie
die alten Lieder wieder aus ihrem Grabe wachgesungen werden möchten. Und
diese Auffassung, die Übersetzung lediglich als Brücke zum Original zu betrachten,
ihr also die bloße Funktion eines Kommentars zuzumessen, ist keineswegs vereinzelt.

Es ist kein Zweifel: Übersetzungen mit rein erläuternder Tendenz sind durchaus
zu scheiden von solchen mit künstlerischer Absicht, wie es die vorliegende von
Friedrich Wolters in hohem Maße ist2). Dennoch ist zu fragen, ob einer Über-
tragung aus dem Mittelhochdeutschen, sei sie die vollkommenste, die gefordert
werden kann, der gleiche Grad selbständigen dichterischen Wertes wird zugesprochen
werden dürfen wie einer vollkommensten Übertragung aus fremder Sprache, etwa
der deutschen Bibel oder dem deutschen Shakespeare. Ich glaube dies verneinen
zu müssen. Die deutsche Sprache des Mittelalters steht uns zu nah, die Bewe-
gungsfreiheit des Übersetzers ihr gegenüber ist zu beschränkt, die Möglichkeiten des
Loslösens und Abstandgewinnens von der Vorlage sind zu gering, als daß ein
völlig neues Eigengebilde im künstlerischen Sinn entstehen könnte. Selbst den
besten Leistungen liegt mehr oder minder verschwiegen die Idee zugrunde, zur
alten Dichtung zurückzuführen, nicht aber der Wille, die alte Dichtung zu ersetzen.
In dieser ideellen und selbstlosen Absicht indessen beruht zugleich der eigene Wert
der dichterischen Übertragungen, von dem noch zu sprechen sein wird.

Die Alternative, vor die sich die Übersetzer von Anfang an gestellt sahen, hieß:
getreue Nachdichtung oder freie Umdichtung. Die ersten Übersetzungen,
die erschienen, folgen durchaus dem freien Prinzip. Bodmer selbst überträgt die
Kaiser Heinrich zugeschriebenen Gedichte mit arger Willkür in das tändelnde Maß
der Anakreontik. Viele von jenen Liedern, meint er, seien in Anakreons und Gleims
Manier geschrieben! Es sieht aus wie eine Bestätigung dieses Satzes, wenn tat-
sächlich als die nächsten die Anakreontiker ihr Interesse auf die Minnelieder richten.
Sie sind auch hier Impressionisten; ihre Umbildungen entspringen keinem Ein-

') Dieser ist freilich durch Fehler arg entstellt. Will Vesper hat die Lieder
zum Teil gut übersetzt (1906).

!) Einzelne Lieder wurden bereits im Auswahlband der Blätter für die Kunst
(Berlin 1909) abgedruckt.
 
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