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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0293
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BESPRECHUNGEN. 287

Weisung der äußeren Einflüsse, welche auf Nietzsche gewirkt haben, großenteils
entkräftet oder stehen wenigstens die beiden Beweisführungen einander höchst
lästig im Wege. Dieselben Eiferer, die als Landsleute und Stammesgenossen
Nietzsches die sächsische Geistesart offenbaren und es also auch bezeugen sollen,
daß er diese Geistesart von seinen Vorfahren überkommen, in der Bildersprache
des Verfassers zu reden: daß sein Tonfall« ein »heimatlicher-, sein »Ausdruck« ein
»ererbter« ist, dieselben Persönlichkeiten erscheinen später als die Lehrmeister des
modernen »Antichrist«, die Erwecker seiner religiösen, philosophischen und künst-
lerischen Interessen. Aber damit entfällt ja gerade die Notwendigkeit, auf Rechnung
der Geburt zu setzen, was aus den äußeren Anregungen ebensogut begriffen werden
kann. Nun sehe ich recht wohl ein, daß sich beide Auffassungen zusammen-
biegen lassen. Eckertz kann sagen: weil die Bildner von Nietzsches Geist selbst
aus dem Sachsenstamme hervorgegangen waren, haben sie nicht fremde Triebe ihm
eingepfropft, sondern nur die schlummernden angeborenen Keime zur Entfaltung
gebracht, und sie haben dies um so erfolgreicher getan, je vollkommener ihr eigenes
Naturell mit dem seinen übereinstimmte. Allein bei dieser Wendung, wie hübsch
sie klingt, würde doch ein wichtiger Umstand außer acht gelassen; es würde über-
sehen, daß sich unter den künstlerischen und intellektuellen Erziehern des großen
Stilisten auch eine erkleckliche Anzahl von Männern befindet, die durchaus in dem
gleichen Sinne wirkten, wiewohl in ihren Adern gar kein oder wenigstens nicht
rein sächsisches Blut floß, — manche, die der Verfasser nennt, und andere, die er
nicht nennt. Zwar nicht eigentlich das Propagandistische, dafür jedoch um so mehr
das hymnisch Getragene, Religiös - Feierliche bei Nietzsche mahnt unverkennbar
an den Schwaben Hölderlin, mit dem er sich schon in früher Jugend so viel be-
schäftigte, und die wiederholten Hinweise hierauf in der Schrift Eckertz' erscheinen
als eine ihrer wertvollsten, weil überzeugendsten Feststellungen: wer sich einmal
die Mühe nimmt, den »Tod des Empedokles« mit Stücken des »Zarathustra« zu ver-
gleichen, wird geradezu verblüfft werden. Wäre aber der Verfasser in der Geschichte
der Philosophie ebenso bewandert, wie er in der Kunst- und Literaturgeschichte zu
Hause ist, so hätte es ihm nicht entgehen können, daß bezüglich des mächtigen
und tiefgreifenden Einflusses dem Schwaben ein Bayer oder Franke zur Seite steht
und daß diesem fränkisch-bayrischen Lehrer, Ludwig Feuerbach mit Namen, der emp-
fängliche Schüler gerade auch ein Gutteil jenes eigenartig heftigen, pathetischen,
Verstand und Gemüt zu gleicher Zeit packenden Tones abgelauscht haben konnte,
welchen der Verfasser als ein Erbstück erklären zu müssen glaubt. Daß Nietzsche
diese Abhängigkeit von Feuerbach nirgends gesteht, hat keine Bedeutung, da ihm
selber vielleicht das klare Bewußtsein des Verhältnisses mangelte; denn ein ab-
sichtliches Verschweigen ist freilich fast nicht weniger ausgeschlossen als ein zu-
fälliges Zusammentreffen. Erscheint doch die »Götzendämmerung« in ihren philo-
sophischen Hauptsätzen, natürlich mit Ausnahme der gegen die altruistische Moral
gerichteten, förmlich wie eine Exzerptensammlung aus Feuerbachs Schriften, und,
wenn man sogar hier beim Absehen von allen persönlichen Momenten noch an
einen Zufall denken könnte, so würde der Gedanke durch die Erinnerung an die
einstige Freundschaft zwischen Nietzsche und Richard Wagner, an den Enthusias-
mus, mit dem jener von diesem die höchsten und tiefsten Offenbarungen erhoffte,
alsbald unmöglich gemacht. Niemand wird im Ernste glauben, daß in der Zeit
schwärmerischer Bewunderung des Meisters der junge leseeifrige und schon stark
philosophisch interessierte Philologe gar nicht das Bedürfnis gefühlt haben sollte,
den Mann kennen zu lernen, dem der Meister seine erste größere Prosaschrift ge-
widmet hatte und der sich seinerseits in einem seiner schönsten Werke vornehm-
 
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