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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Hohenemser, Richard: Wendet sich die Plastik an den Tastsinn?
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0412
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406 RICHARD HOHENEMSER.

gemütlicher Anteilnahme«1). Er schreibt nämlich den Tastwahrneh-
mungen eine zwar dunkle, aber besonders tiefgehende seelische Wir-
kung zu und ebenso den Gesichtseindrücken, wenn sie in der Art
von Tastwahrnehmungen erfolgen, wenn das Auge also etwa eine
Statue gleichsam abtastet. Er zieht aus seiner Begriffsbestimmung der
Schönheit räumlicher Formen niemals die volle Konsequenz, die Werke
der Plastik wirklich durch den Tastsinn wahrnehmen zu lassen, son-
dern er geht immer wieder von der Betrachtung durchs Auge aus.
Nur soll es die Statue durch ihre Körperlichkeit und durch die be-
sonderen Bedingungen des Tastsinns, denen sie der wahre Künstler
anpaßt, ermöglichen, daß diese Betrachtung zu einer Art des Betastens
werde und daher die gleichen Wirkungen habe wie dieses selbst. So
wird das Wort »Gefühl« einerseits auch auf den Gesichtssinn über-
tragen, anderseits als Bezeichnung der Wirkung des Betastens und
des tastenden Sehens verwendet.

Weiter wirft Cohn Herder vor, er verwechsle »den Anteil, welchen
der Tastsinn an der Ausbildung der räumlichen Gesichtswahrnehmung
hat, mit einer direkten Wahrnehmung der Dinge durch den Tastsinn«.
Doch scheint mir dieser Vorwurf der Berechtigung zu entbehren.
Freilich betrachtet Herder den Tastsinn als den spezifischen Wirklich-
keitssinn, da wir durch ihn Gewißheit über die körperliche Existenz
gesehener Gegenstände erhielten. Aber diese Gewißheit erlangen wir
doch eben nur durch Tastwahrnehmungen selbst oder durch jenes
tastende Sehen; diese würden wir nach Herders Ansicht einem Ge-
mälde gegenüber nicht haben, da wir hier die dargestellten Gegen-
stände nicht von allen Seiten betrachten können.

Die von Cohn gerügte Verwechslung liegt demnach wohl nicht
vor. Dagegen hat Herder so gut wie nichts getan, um seine beiden
Arten des Sehens wahrscheinlich und erklärlich zu machen; denn
weder erhält man den vollen Eindruck der Statue erst dann, wenn
man sie von allen Seiten betrachtet, noch fehlt in den Darstellungen
der Malerei der Eindruck der Körperlichkeit. Mit Recht weist Cohn
auf Hildebrands Schrift »Das Problem der Form in der bildenden
Kunst« hin, worin gezeigt sei, »daß der Plastiker ebensogut wie der
Maler ein geschlossenes Raumbild erstrebt, und daß er das Bild so-
gar auf eine gewisse Ferne berechnet«. Ja, Hildebrand lehnt die
Forderung, daß eine Statue von jedem beliebigen Standpunkt aus ge-
sehen künstlerisch wirken müsse, mit Entschiedenheit ab und hält
den Schüler an, den Stein so zu behauen, daß er stets ein flächen-

') R. Haym, J.O.Herder, 2. Bd., 1885, S. 70. J. Cohn, Allgemeine Ästhetik,
1901, S. 96.
 
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