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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0496
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490 BESPRECHUNGEN.

nicht durch einen vollfunktionierenden Menschen, sondern nur mit der Ausdruck-
stärke eines solchen. Und um diese Ausdruckstärke zu erreichen, hat es, den Mangel
der Gebärdensprache ausgleichend, neben der größeren Wortfülle vor allem die
Sprachgebärde. Davon kann dann manches fallen, sobald das Drama in die voll-
sinnliche Ausdrucksfähigkeit der Bühnendarbietung gezogen wird, und muß fallen
unter dem Prinzip der Concinnitas. Es handelt sich bei diesem Hinüberziehen um
eine ganz eigentümliche Art von Übersetzung, bei der die Mehrzahl der Form-
elemente beibehalten wird, aber unter Hinzufügung anderer doch nuancierte Quali-
täten bekommt. (Eine Parallele fände sich vielleicht in der Übersetzung einer Ra-
dierung in ein Ölbild.)

Diese Übersetzung wird offenbar getragen von den Schauspielern. Sie stellen
einmal die körperlichen Aktionen, die Taten dar (dazu haben sie Anweisung); dann
aber lösen sie die Wortexponenten des Dramatikers durch die Kraft eigener Erleb-
nisse in ihr Gefühl auf (das tut noch jeder gute Leser!); und endlich — hier liegt
das eigentliche Künstlerische — schaffen sie aus diesem Gefühlserlebnis heraus all
die anderen Exponenten des vollfunktionierenden Menschen (hier sind sie frei-
schöpferisch , und doch nur in dem Sinn einer Übersetzung in zum Teil anderes
Material). Aber um diese Kunstwerke der Schauspieler ist es etwas eigenes: Bab meint
selbst, man könne nicht ein Bild aus Bildern kleben. Wenn aber die Schauspieler-
leistung doch ein Kunstwerk ist (nach Bab), und die ganze Aufführung doch wohl
auch eins sein soll — wie dann? Dieser Widerspruch scheint mir nur lösbar —
einmal von der Aufführung ausgehend durch eine Akzentverschiebung in den Thesen
Babs — und zweitens von der Schauspielkunst ausgehend, durch eine Differenzierung
dieser noch immer als einheitlich betrachteten Kunst.

Die Akzentverschiebung. — Die Übersetzung wird im einzelnen getragen von
den Schauspielern, im ganzen gemacht aber von dem Regisseur (dem idealen!). Der
schafft sich beim Verarbeiten des Dramas eine Vision von der vollsinnlichen Bühnen-
darbietung und komponiert eventuell nach dem Prinzip der Concinnitas um. Er
schafft danach (Außenregie) das Dekorativ-Künstlerische, die Inszenierung — und
(Innenregie) die räumliche Verteilung der Schauspieler im Bühnenbild, so daß das im
Drama nur durch Worte gegebene seelische Zu- und Gegeneinander noch einmal
durch räumliche Stellung und Haltung exponiert wird: eine Geometrie der Seele,
wie auf Bildern von Marees etwa — und endlich, das Schwierigste und Größte,
er wählt aus seinem Schauspielermaterial die, welche die Ausdrucksmöglichkeiten
für seine an der Gesamtübersetzung des Dramas orientierte Rollenauffassung haben,
und zwingt sie — nicht durch Vorspielen, sondern durch Suggestion (Immermann) —,
in seinem Sinne ihre Möglichkeiten zu Wirklichkeiten zu gestalten. So realisiert er
seine vollsinnliche Vision von dem Drama in einem Material, das so unendlich viel
schwieriger zu beherrschen ist als das aller anderen Künste, weil es zum Teil aus
schaffenden Menschen besteht — realisiert sie, indem er Kunst nicht addiert, son-
dern potenziert — realisiert sie als Organisator, wie jeder Künstler Organisator ist
(Kunst ist Organismus) — aber er realisiert sie als ein Feldherr unter den Künstlern,
als ein genialer Herrscher, ein höchst königlicher — er, der ideale Regisseur!

Die Differenzierung: — ich kann hier leider nur andeuten — zwei Pole: der
darstellende und dergestaltende Schauspieler. Das Erlebnis des Schauspielers
ist ebenso wie das jedes Kunstgenießers, an »ursächliches«, an persönliches Erlebnis
gebunden, aber: der darstellende Schauspieler wird wie der Leser durch das Kunst-
werk über sich hinausgerissen — was er selbst nie hätte zu einer Persönlichkeit
gestalten können, hier in der Rolle ist's gestaltet und er übersetzt; der gestaltende
Schauspieler dagegen reißt die Rolle über sich hinaus, die Rolle, die er im Grunde
 
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