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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0498
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492 BESPRECHUNGEN.

rungen Brüggemanns gewissermaßen als einen Einzelbeleg für die Aufstellungen
ansprechen, die Lamprecht als psychische Mechanik des Übergangs vom Zeitalter
des Individualismus zu dem des Subjektivismus entwickelt hat. Das Individuum
als quantitativ isolierter Mikrokosmos, wie es die Zeit des Individualismus sah, wird
mit dem Hervorbrechen des subjektivisüschen Gefühlslebens seit 1760 zur qualitativ
sich isolierenden Persönlichkeit. Aber es gelingt ihr nicht, sich ganz und gar auf
sich selbst zu stellen. »Die subjektivistische Seele bedarf einer fortdauernden Be-
ziehung zu ihrer Umgebung, um sich ihres subjektiven Sondercharakters bewußt
zu bleiben: verliert sie diese Beziehung durch eine Überspannung der in ihr leben-
den isolierenden Tendenz, so verfällt sie einer Störung des Selbstbewußtseins. Wir
werden sehen, daß die Ironie alsdann nichts anderes ist als das Symptom dieses
psychopathischen Zustandes« (S. 31).

Den Anlaß zu seinen Studien entnimmt der Verfasser Tiecks Jugendroman
»Die Geschichte des Herrn William Lovell« und bezeichnet es als seine Aufgabe,
»die Probleme des Seelenlebens, die in Tiecks Roman Hauptgegenstand der Dar-
stellung geworden sind, in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen, sie im
geschichtlichen Zusammenhange zu erklären«. Mit einer deskriptiven Betrachtung
des Lovell beginnt Brüggemann, um nach eingehender Prüfung der in zeitlich
vorausliegenden Romanen gegebenen Grundlagen subjektivistischen Seelenlebens
mit einer genetischen Betrachtung zu enden. Das erste überwältigende Dokument
des Frühsubjektivismus liegt in Werthers Leiden vor. Von hier führt der Weg
über Jacobis Woldemar und den Anton Reiser von Moritz zu Tiecks Lovell. In
Lovell erreicht das stetig sich steigernde Temperament des Seelenlebens seinen
höchsten Grad. Gelassenheit, Leidenschaft, Enthusiasmus bezeichnen die Linie der
Steigerung. Lovell ist der typische Enthusiast der frühromantischen Zeit. Die
außerordentlich große Beweglichkeit seiner Gefühle prägt die Haltlosigkeit seines
Charakters aus. Sein Enthusiasmus gibt sich aber nicht etwa naiv, sondern immer
gebrochen in kritischer Bcspiegelung. »Der William Lovell ist ein Roman der
enthusiastischen Empfindsamkeit, der sich dabei ostentativ gegen die Empfindsam-
keit richtet, in der tausend Gefahren erblickt werden. Wenn wir Lovell sich selbst
über seine Gefühle äußern hören, so fällt uns ein merkwürdiger Skeptizismus diesen
Gefühlen gegenüber auf, der wie eine erschreckende Disharmonie die Seele dieses
Empfindsamen beherrscht.«

Die Anlagen zur Ironie zeigen sich schon im Werther. »Die Spaltung zwischen
einer imaginären Gefühlswelt und der wirklichen Außenwelt ist schon gegeben.«
Der Gefiihlssubjektivismus im Werther erstarkt im Woldemar zu festeren subjekti-
vistischen Moralanschauungen. Die Einbildungskraft ist unabhängiger geworden
von der Wirklichkeit. Das steigert sich weiter im Anton Reiser. Die Dissoziation
der Persönlichkeit in Reiser-Moritz tritt in voller Deutlichkeit hervor. »Dieser selbe
Mann, der für ein unwirkliches, traumhaft-halbbewußtes Leben in der Phantasie
erglüht, sieht die Wirklichkeit seiner seelischen Regungen mit einer Schärfe des
Intellektes, die fürchterlich ist.« Und Brüggemann bezeichnet es als das Tragische
an diesem Manne, daß die Spaltung zwischen der idealischen Welt seines Inneren
und der wirklichen Welt außer ihm zum klaffenden Riß geworden ist.

Der Mangel an Kontakt mit der Außenwelt, auf dem die Ironie beruht, wird
im William Lovell zur ausgesprochen psychopathischen Erscheinung. In der passiven
Ironie bleibt Lovell stecken; er will aus der Passivität heraus und verstrickt sich
nur immer tiefer darein. Er strebt nach äußerer Aktivität, zu praktischem Handeln,
aber er ist unfähig dazu. Sein enthusiastisches Temperament vermag nicht zu der
Mäßigung zu kommen, die zu einer Herrschaft über die Dinge und über sich selbst
 
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