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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Mayer, Adolf: Naturwissenschaftliche Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0626
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BEMERKUNGEN. 513

weder Theologie noch auch Jurisprudenz kann gelernt oder in diesen Fächern etwas
geleistet werden, ohne Gebrauch zu machen von einer mehr oder weniger ausge-
dehnten Bücherei und ohne selber den Umfang derselben zu vermehren.

Es gibt Mathematiker und auch eigentliche Naturforscher im engeren Sinne des
Worts, die ohne erhebliches Material von Büchern arbeiten, und solche, die Großes
geleistet haben, ohne mehr als einige Bogen, auf denen ihre Resultate veröffentlicht
wurden, zu beschreiben oder bedrucken zu lassen. — Zitate sind da nur nötig, um
sich mit anderen auseinanderzusetzen. Auf dem Gebiete der Kulturwissenschaften
wird aber selten eine Broschüre geschrieben, die nicht von Zitaten strotzt, denn
diese sind hier die Beweismittel.

Man kann das Verhältnis auch so ausdrücken, daß man sagt: Die Methode
der Naturwissenschaften ist im wesentlichen unhistorisch, ohne feste Beziehung zum
Überlieferten; das Überlieferte wird noch täglich korrigiert durch autoptisches Stu-
dium. Die der Kulturwissenschaften ist wesentlich historisch, und das Autoritative
spielt eine weit hervorragendere Rolle. Dort ist die selbsterworbene Kenntnis, der
Augenschein die ultima ratio; hier das Wort, das gegebene System.

Die Folgen dieser verschiedenen Methode machen sich natürlich auch in der
geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaften geltend. Dort auf dem Gebiete
der Natur steht nichts ganz fest; jeder Forschende ändert an dem System ein
weniges, oft kaum merkliches. In den Kulturwissenschaften bleibt es stabil, bis es
unerträglich wird; dann folgt ein revolutionärer Umsturz. Kleine Reformen werden
durch das autoritative und scholastische Wesen dieser Wissenschaften beinahe un-
möglich gemacht.

Das alles muß so sein, wenigstens bis zu einem gewissen Grade; es ist durch
die Natur der Sache gegeben, und wenn ich hier diese Ausgangspunkte berühre,
so geschieht es nur, weil es neben den typischen Kultur- und Naturwissenschaften
auch Disziplinen gibt, die sich nicht ausschließlich nach der einen oder der anderen
Methode bearbeiten lassen, und weil mir speziell die Ästhetik, die so oft als ein
Unterteil der Philosophie hingestellt wird, als eine solche Grenzwissenschaft er-
scheint. Das Mittel der Darstellung des Schönen ist doch auch meist zugleich
naturwissenschaftliches Objekt.

Wenn nun solche Grenzwissenschaften — und die Grenze liegt oft näher als
man denkt — ausschließlich von Männern der philosophischen Richtung bearbeitet
werden, dann bekommen jene leicht einen scholastischen Hauch der Unfruchtbar-
keit und könnten doch vielleicht von der naturwissenschaftlichen Seite aus zu neuem
Leben angeblasen werden oder wenigstens auf diese Weise eine Verjüngungskur
durchmachen, die ihnen heilsam wäre.

Erleben wir die Unzulänglichkeiten, gegen die wir anzukämpfen unternehmen,
doch nicht zum ersten Male. Hat sich nicht — nun vor beinahe 100 Jahren — die
Philosophie aufs schwerste an der Naturwissenschaft versündigt, als sie im kecken
Übergriffe die Naturphilosophie schuf, die sich bald als ein gänzlich hohles Gebilde
erwies, wogegen die Naturwissenschaft auf das heftigste reagierte; und darf man
sich verwundern, daß diese nun ihrerseits versucht, so weit wie möglich auf den
Grenzgebieten vorzudringen?

Und in der Tat. Schon hat in der Psychologie auf einem früher von der
Philosophie okkupierten Gebiete ein gewesener Physiologe mit Erfolg geschaffen.
Muß da der Mut des naturwissenschaftlichen Geistes nicht weiter und weiter
wachsen? Sollte es ihm verboten sein zu versuchen, ob er nicht auch für diejenigen
Zweige der Ästhetik, deren Objekt ein rein naturwissenschaftliches ist, einigen
Nutzen zu bringen vermag? — Wundts Bezeichnung der Aufgabe der Kunst, als
 
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