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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0646
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BESPRECHUNGEN. 533

sichtspunkfen aus, etwa von der antiken, der mittelalterlichen, der neuzeitlichen
Stilbewegung zu sprechen.« Und noch einen Grundgedanken Colin-Wieners will
ich hervorheben, nämlich seine Ansicht, daß nicht »geistige Bewegungen, wie das
Entstehen und Vergehen von Religionen, die selbst erst Produkte der Entwicklung
sind, sondern physische Bewegungen im Völkerleben und in der Lebensökonomie«
von maßgebendem Einfluß auf die großen Stilwandlungen sind.

Einiges scheint mir nun in diesen scharfsinnigen und geistvoll durchgeführten
Lehren bedenklich; ich will aber meine Kritik nur auf wenige Bemerkungen be-
schränken, um so mehr weil ich in kurzer Zeit eine eigene Schrift: »Was ist Stil?«
zu veröffentlichen gedenke und hier nicht den an dieser Stelle ausführlich ent-
wickelten Ergebnissen vorgreifen will. Jedenfalls kann ich dem Gedanken Colin-
Wieners keineswegs beipflichten, daß große geistige Bewegungen nicht stilwandelnd
wirken. Die historischen Tatsachen widersprechen da in schroffster Weise. Die
gewaltige geistige Bewegung, die dem Christentum zum durchschlagenden Siege
verhalf, erzwang sich doch eine neue, ^eigenartige Kunst und wirkte — stilistisch
genommen — in vielen Beziehungen äußerst befruchtend. Und als die Renaissance
eine neue Kultur brachte, da erzwangen die neuen Lebensformen und Lebensinhalte
auch neue künstlerische Gestaltungen. Wie innig das Rokoko mit dem ganzen
geistigen Gehalt seiner Zeit zusammenhängt, bedarf wahrlich nicht vieler Worte.
Und die Kunst des 19. Jahrhunderts empfing jedenfalls von den treibenden geistigen
Strömungen mit ihre wertvollsten Anregungen. Wie die ganzen sozialen Verände-
rungen in der Kunst tiefgreifende Umwälzungen zur Folge hatten, ist ja oft und
oft dargestellt worden, ebenso wie die ganzen naturwissenschaftlichen und mate-
rialistischen Anschauungen sich künstlerisch durchzusetzen versuchten. Und unsere
moderne Architektur ist ja wesentlich mit bedingt durch die mächtigen Errungen-
schaften der Hygiene und durch technische Entdeckungen. Ich führte nur einige
wenige Beispiele an, um zu zeigen, daß es eine nicht gerechtfertigte Verallgemeine-
rung ist, den geistigen Mächten wirkende Kraft abzusprechen. In der Praxis tut
dies ja auch Cohn-Wiener nicht, er müßte dies nun aber in der Theorie zu deut-
lichem Ausdruck bringen. Ja, es käme im Gegenteil darauf an, gegenüber materia-
listischen Auffassungen klar darzutun, wie in der Menschheitsgeschichte und damit
auch in der Kunstentwicklungsgeschichte alle großen Wandlungen auf das innigste
zusammenhängen mit großen, geistigen Strömungen. Damit will ich durchaus nicht
die Meinung befürworten, das Wesen des Stils ganz aus der Kultur einer Zeit ab-
leiten zu wollen; aber jedenfalls stellt sie einen mächtigen Faktor dar. Stil ist über-
haupt ein ganz verschwommener, vieldeutiger Begriff; und solange wir nicht die
mannigfachen Bedeutungen, die dieser eine Name deckt, klar herausarbeiten, werden
wir immer nur im Unsicheren tasten und nie zu scharfen Bestimmungen gelangen.
Hier tut zunächst strenge Begriffsklärung not! Und ich darf wohl vielleicht be-
merken, daß dies die Stelle ist, wo meine — oben erwähnten — Untersuchungen
ansetzen.

Als eine große Schwierigkeit erscheint mir ferner, daß Cohn-Wiener vom dori-
schen Stil des griechischen Altertums bis zum hellenistisch-römischen, vom roma-
nischen des Mittelalters bis zur Spätgotik, von der frühesten Renaissance in Italien
bis zum Barock eigentlich Lücken läßt. Und doch liegen gerade in diesen Lücken
schärfste, herrlichste Stilausprägungen und nicht nur Stilmischungen. Aber sie fügen
sich eben nicht in das Schema; und das muß doch Bedenken erwecken. Ferner
halte ich den Begriff reiner Zweckerfüllung, der geradezu Colin-Wieners Grund-
begriff ist, überhaupt für keine ästhetische oder künstlerische Kategorie und habe
diese meine Überzeugung in der Abhandlung »Zweckmäßigkeit und Schönheit« dar-
 
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