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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0648
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BESPRECHUNGEN. 535

seine Lösung an lebendigem Wert verloren zu haben — wie denn ganz allgemein
die großen Wandlungen in der Richtung der wissenschaftlichen Arbeit niemals oder
doch niemals allein aus der inneren Lage der betreffenden Wissenschaft selbst und
einem danach rational festzustellenden Arbeitsprogramm, sondern vielmehr aus dem
durchaus irrationalen Vorgang eines Wechsels in den lebendigen Bedürfnissen der
Zeit hergeleitet werden müssen. Es liegt nun in unserem Fall zunächst offen
zutage, daß eine starke nationale Bewegung allgemeinster Art sich, wie überall, so
auch auf dem Gebiet der »objektiven« Historie durchzusetzen und von hier aus
eine tiefere Begründung ihrer selbst zu gewinnen sucht. Gewiß, daß es dabei
auch hier nicht ohne die offenbaren Übertreibungen und Torheiten eines engen
Chauvinismus abgeht — aber der Kern dieser Bewegung, die sich in der Einrich-
tung von Ausstellungen und der Begründung von Vereinen nicht weniger deutlich
zeigt als in der kunstgeschichtlichen Literatur, ist durchaus gesund, und ungeahnte
oder doch kaum gekannte Schätze der älteren niederländischen und deutschen wie
der französischen Kunst sind uns dadurch erst recht erschlossen worden. Auch
die Persönlichkeit des älteren Brueghel wird uns in diesem Zusammenhange immer
bedeutsamer, und Bernard ebenso wie Hausenstein stimmen den Ton ihrer Dar-
stellung mit vollem Recht auf das Nationale und Bodenständige seiner Kunst.
Schließlich ist dann doch, ihn gewonnen zu haben, ein Gewinst nicht nur des
einen Volkes, sondern der europäischen Kultur, und über jene nationalistische
Färbung hinaus — der letzte Grund, der uns heute überall auch in dem künstle-
rischen Leben der Vergangenheit die nationalen Besonderheiten suchen und er-
kennen läßt, ist doch wohl ein allgemeiner. Es ist jene große Woge, die seit dem
18. Jahrhundert immer wieder emporschlägt und auf allen Lebensgebieten dieselbe
unruhige Bewegung hervorruft: einer Sehnsucht nach dem ganz Ursprünglichen
und Unverbildeten, nach einer Kunst, die nicht so sehr bewußte Kultur und eine
souveräne Verwendung fertiger Bildformen und -formein als vielmehr Frische und
Vielseitigkeit und eine unmittelbar schlagende Gewalt des Eindrucks besitzt, in un-
befangener und ganz sinnlicher Berührung mit der Wirklichkeit. Der sentimentale,
»romantische«; Ton dieser Sehnsucht hat sich immer mehr verloren — wir suchen
in der alten Kunst nicht mehr einen für uns vorbildlichen »Stile, sondern nur das
einfache Erlebnis eines ganz individuellen Vermögens künstlerischer Anschauung,
durch dessen Nacherleben die eigne Aufnahme- und Schaffensfreudigkeit erfrischt
und gesteigert wird. Es hängt damit zusammen, daß Mittelalter und Spätgotik in
ihrer positiven Bedeutung für den Aufbau unserer heutigen Kultur gegenüber der
Renaissance stärker hervortreten als bisher — wie anders freilich verstanden als
von den Romantikern! —, und daß uns in der späteren Entwicklung Erscheinungen
wie diejenige Rembrandts so besonders nahe kommen, in denen jener natürliche,
rein gefühlsmäßige Prozeß der Entstehung des Kunstwerks, mit seiner Mischung
von Naivität und Tiefe, sich am reinsten erhalten hat. Auch von dieser Seite aus
gesehen, wird bereits hier und dort zu warnen sein, daß die Bewegung sich nicht
in einen leeren Tumult und Bildersturm gegen die Renaissance und in ein ge-
hässiges und unfruchtbares Bestreiten alles dessen verliert, was in der älteren Kunst
des Romanismus und Rationalismus verdächtig erscheint. Überall bleiben ja doch
die Ergebnisse auch dieser Arbeit unverlierbar in die Entwicklungsgeschichte des
modernen Geistes verwoben, und das Ziel kann nicht sein, das Wasser abzu-
graben, das bereits den Berg herabgeflossen ist, sondern vielmehr: mit freier und
ehrlicher Anerkennung des einmal Gewordenen in positiver Arbeit unseren Bestand
an Werten lebendiger Kultur zu ergänzen und fortzubilden, der Zukunft neue Mög-
lichkeiten zu weisen. In dieser Richtung liegt denn auch der Wert der Rückerobe-
 
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