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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0652
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BESPRECHUNGEN. 539

schwächlichen Gestalten Lechters nunmehr auch dem schwerer auffassenden Zeit-
genossen deutlich, begreifbar und fühlbar gemacht. Es heißt hier mit einer Wen-
dung gegen einige unberufene Beurteiler:

»Sie wissen nicht, daß der Kampf um die Schönheit von jeher mit der Geburt
des adligen Leibes begonnen hat, daß die Gestalten dieser Meister die Formen der
Zukunft in sich tragen: die aus innerem Stolz erzeugte Gebärde der edelgehaltenen
Ruhe, welche die Willkür der körperlichen Bewegungen im schönen rhythmischen
Zwange bändigt. Denn der wahre Künstler will nicht ein schönes Gebild schaffen,
um dem Auge oder Ohr einige genüßlichen Augenblicke lang zu gefallen; er will
uns mit seinem Werke im Tiefsten erschüttern, durch die Erschütterung in seine
Lebenswelt reißen, uns dort zwingen, ein Gewohntes zu verlassen, und indem er
uns mit Bildern und Kämpfen eines höheren Daseins füllt, als sie der Alltag kennt,
in uns selbst die höchsten Gewalten aufrufen, daß sie Leib und Seele nach dem
Geschauten umbilden und schöner formen« (S. 45).

Schon diese kurze Übersicht läßt erkennen, wie die neue Art der Betrachtung
und Darstellung, welche Wolters hier auf das Werk Lechters anwendet, den wahren
Zweck derartiger Arbeiten, den Weg zur Kunst und zum Künstler zu bahnen, un-
vergleichlich viel besser erfüllt als etwa stilvergleichende Untersuchungen der Bilder
und Bildteile, geschichtliche Untersuchungen des Lebens und der Lebensinhalte der
Künstler oder die jetzt so beliebte Darstellung der »Kulturgehalte« eines Kunst-
werks. Alle diese Arbeiten vernichten das Werk zugunsten persönlicher Sonder-
genüsse des Untersuchenden oder Betrachters. Auch unter dem Gesichtspunkt
wissenschaftlicher, forscherlicher Leistung kann mit der Aufzeigung von Teilen, Ge-
halten, zufälligen Bedingtheiten nichts gewonnen werden. Aus ihnen ergibt sich,
soviele man davon zusammensetzt, nie ein Bild des Ganzen, nie eine Wesenheit,
die man als ein Wirksames oder Beeinflußbares in den Zeitenverlauf einstellen
könnte. Wirksam und beeinflußbar sind nur die Unteilbarkeiten, Unauflöslichkeiten,
die Persönlichkeiten. Nur von ihnen aus, von einem Ganzen auf ein Ganzes —
ohne teilhafte Ausdeutung kann man eine geschichtliche Ableitung, eine entwickelnde
Darstellung unternehmen, nicht aber von der Gleichheit von Meinungen, Hand-
lungen, Fertigkeiten, die in verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten er-
scheinend immer etwas anderes Unvergleichliches bedeuten. Daher ist die Erfas-
sung der Erscheinungen im Ganzen — ohne Auflösung in ihre Teile — und ihre
Darstellung als geschlossene Einheiten auch vom forscherlichen Standpunkte aus
allein ein Verdienst. Es ist hier wie immer: was mit der Absicht unternommen
ist, seinem nächsten Zwecke, dem Gegenstande, genau und vollkommen zu dienen,
dient auch weiteren, unübersehbaren Zwecken, dient aller Welt. Indem die Arbeit
in treuester Hingabe an das Lechtersche Werk sich bemüht, dieses Werk nur aus
seinen eigenen und den ursprünglichen Bedingungen der Kunst zu entwickeln, ge-
lingt es ihr, nicht nur dies Werk allen denen, die zur Kunst noch ein unmittelbares
und ursprüngliches Verhältnis haben, in seiner geschlossenen, zeitvertretenden Ein-
heit sichtbar zu machen, sondern sie schafft auch mit der Darstellung dieser Einheit
ein wichtiges Glied in der Reihe der wohl verstandenen Kunstgeschichte.

Die Tafeln und sonstigen Bildwiedergaben, welche dem Bande eingefügt sind,
sind nicht so sehr Verdeutlichungsmittel oder gar Schmuck als Bestandteil der
Arbeit. Man sieht fast in ihnen das Wort des Aufzeigenden sich verkörpern und
wieder aus ihnen sein weiferführendes Wort sich lösen. Sie sind weniger ein Sinn-
bild, als der Gegenstand selbst der Vereinigung des liebenden Betrachters mit dem
künstlerischen Werke. Das Wort scheint unmittelbar ins Werk überzuspringen und
seine letzte überzeugende Verlebendigung zu erfahren. Das war nur möglich,
 
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