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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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Lange, Konrad von: Der Zweck der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0182
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178 KONRAD LANGE.

wieder nicht. Wir bleiben uns bewußt, daß wir getäuscht werden sollen.
Mit einem Worte: Wir erleben eine bewußte Selbsttäuschung.

Dieser merkwürdige Zustand, der nebenbei gesagt schon Goethe
bekannt war und von ihm als »selbstbewußte Illusion« bezeichnet
worden ist, entsteht dadurch, daß jedes Kunstwerk neben, den täu-
schungfördernden Elementen, die auf eine Annäherung an die Natur
hinauslaufen, auch täuschunghindernde Elemente aufweist, die von
ihr hinwegführen. Durch das Zusammenwirken beider wird eine Zwei-
teilung unseres Bewußtseins bewirkt, die ich als gleichzeitiges
Erleben zweier Vorstellungsreihen bezeichnet habe. Oder —
da wir zwei Vorstellungen streng genommen nicht gleichzeitig erleben
können, als einen Wechsel zweier Vorstellungsreihen. Da
diese letzteren hinsichtlich der Täuschung einander entgegenarbeiten,
können wir sie auch als kontrastierende Vorstellungsreihen
bezeichnen. Die eine von ihnen, d. h. diejenige, welche die täuschung-
fördernden Elemente enthält, bezieht sich grob gesagt auf den Inhalt
des Kunstwerks, insofern sie uns ja eben diesen vortäuschen will. Die
andere, d. h. diejenige, welche die täuschunghindernden Elemente ent-
hält, bezieht sich auf die Form des Kunstwerks, wobei ich unter
Form auch das Material und die technische Herstellung mit verstehe.
Bei jedem Kunstwerk haben wir einen Gegensatz zwischen dem, was
es ist, und dem, was es darstellt. Das erstere nehmen wir un-
mittelbar wahr, das zweite stellen wir uns nur auf Grund dieser Wahr-
nehmung vor. So sehen wir z. B. in einem gemalten Interieur eine
bemalte Fläche, stellen uns aber unter dieser vor: einen Raum von
bestimmter Tiefe. So sehen wir in der Marmorstatue eines nackten
Menschen Marmor in bestimmter Bearbeitung, stellen uns aber vor:
einen lebendigen Körper. So hören wir in einer musikalischen Kom-
position mathematisch geordnete Töne, d. h. Rhythmen und Harmonien,
stellen uns aber vor: einen bestimmten Gefühlsausdruck.

Der springende Punkt der Illusionstheorie ist nun der, daß nach
ihr diese zwei Vorstellungsreihen nicht nur theoretisch konstatiert
werden können, sondern auch tatsächlich beide in unserem Be-
wußtsein vorhanden sind. Das heißt, daß wir während der ästhe-
tischen Anschauung beide, und zwar abwechselnd miteinander,
erleben. Ich will das an einem Beispiel erläutern. Wenn ich im
Leben ein schmerzverzerrtes Gesicht sehe, so sehe ich einfach Schmerz.
Das heißt ich sehe einen Menschen, von dem ich weiß, daß er Schmerz
empfindet, ich erlebe das Gefühl, das diesem körperlichen Schmerz
entspricht, nämlich Mitleid. Wenn ich aber einen Marmorkopf mit
schmerzverzerrten Zügen sehe, wie den des Laokoon, so sehe ich nicht
einfach Schmerz, sondern vielmehr Marmor und Schmerz. Das heißt
 
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