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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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Meyer, Theodor A.: Kritik der Einfühlungstheorie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0533
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XI.

Kritik der Einfühlungstheoräe.

Von

Theodor A. Meyer.

Wenn wir zum Genuß des Kunstwerks gelangen wollen, so ist
von uns vor allem die Lösung einer Aufgabe verlangt; das Kunstwerk
stellt sich uns als ein Äußeres dar; es gibt uns Linien, Farben, Klänge,
Vorstellungszusammenhänge; aber diese Formen wollen die Offen-
barung eines Inneren sein; sie wollen gedeutet sein als Ausdruck
eines ihnen innewohnenden Lebens, als Ausdruck von Kraft und
Seele*). An diesem Verhältnis erhebt sich die Frage, wie wir dazu
kommen, in diesem Äußeren ein Inneres zu sehen und in welcher Art
und Weise wir uns des Lebens bemächtigen, das im Kunstwerk be-
schlossen ist. Aber zugleich bildet die Erfassung des Inneren eine
ganz wesentliche Seite am ästhetischen Genuß, ja nach manchen
Ästhetikern die ausschließliche Ursache desselben. Ist dem so, dann
wird mit der Erkenntnis davon, wie wir uns den Gehalt des Kunst-
werks aneignen, im wesentlichen auch miterkannt, was den ästhe-
tischen Genuß und die Natur des Schönen ausmacht.

Zweifellos muß also jede Theorie von der Aneignung des Inneren
am Kunstwerk beiden Aufgaben gerecht werden: sie muß erklären,
wie man ein Inneres und vornehmlich Seelisches, das uns nur in
äußeren Zeichen gegeben ist, aus diesen zu erschließen vermag und
sie muß aus der Art der Aneignung das Wesen des ästhetischen Ge-
nusses deutlich machen. Aber wenn schon die gemeinsame Lösung
beider Aufgaben ihr letztes Ziel sein muß, so mag es doch fraglich
erscheinen, ob sie gut tut, beide von Anfang an zugleich in Angriff
zu nehmen oder gar den zweiten Gesichtspunkt zum maßgebenden
zu machen und überhaupt nur darum die Frage nach der seelischen
Deutung der Formen zu erheben, um zur Erkenntnis vom Wesen des

]) Im V. Band dieser Zeitschrift, S. 141, hat Vernon Lee das Einfühlen im Hin-
blick auf visuelle Formen behandelt, die keinen Inhalt vermitteln wollen. Hier
sollen ebenso einseitig diese Formen ausgeschlossen sein und die Theorie des Ein-
fühlens nur an solchen Erscheinungen geprüft werden, die als Ausdruck eines in
ihnen sich offenbarenden Innern erfaßt werden sollen. Es dürfte angemessen sein,
vorläufig die Gebiete zu trennen und jedes für sich zu betrachten.

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. VII. 34
 
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