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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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Meyer, Theodor A.: Kritik der Einfühlungstheorie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0534
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530 THEODOR A. MEYER.

ästhetischen Genusses zu gelangen. Wenn, wie sich zeigen wird, die
Einfühlungstheorie sich als unzulänglich für die Beantwortung der
ersten Frage erweist, so ist daran der Umstand mit schuld, daß sie
von ihren Hauptvertretern, von Lipps, Groos und bis zu einem ge-
wissen Grad auch von Volkelt immer nur als ein Mittel zum Ver-
ständnis des Wesens des ästhetischen Genusses entwickelt worden
ist, während sie damit zugleich besagen wollen, wie das Verständnis
des Seelischen am Kunstwerk zustande kommt. Der ästhetische Ge-
nuß beruht vornehmlich auf der Gehaltseinheit, die sich aus den ver-
schiedensten Lebensmomenten ergibt, die im Kunstwerk beisammen
sind. Dabei spielen diese einzelnen Momente eine ganz verschiedene
Rolle, bald eine mehr grundlegende, bald eine mehr nur mitwirkende.
Das Häßliche z. B. ist oft nur ein untergeordnetes Bestandteil, be-
stimmt, durch Kontrast das Schöne zu heben. Der seelischen Deutung
dagegen müssen wir alle Lebensmomente in gleicher Weise unter-
werfen. Es ist daher klar, daß man methodisch allein richtig verfährt,
wenn man beide Betrachtungsweisen trennt und zuerst allein die
Frage nach der Deutung erhebt.

Die Befürworter der Einfühlungstheorie gehen mit Recht von der
Tatsache aus, daß uns das Seelische immer nur in uns selbst ge-
geben ist, daß wir es also letzten Endes, auch wo wir es in einem
anderen finden, immer nur aus uns selbst nehmen können. Wie diese
Entnahme aus dem Eigenen stattfindet, darüber herrschen unter ihnen
hinsichtlich der Einzelheiten verschiedene Ansichten, deren Grundzüge
aber auf folgendes hinauslaufen: das Kunstwerk wirkt durch die Äuße-
rungen und Begleiterscheinungen des Seelischen und die Ursachen der
seelischen Erregungen, die es uns vorhält, auf unser Gefühl und weckt
in uns eben dieselben Gefühle, deren Äußerungen oder Erregungs-
ursachen wir am Kunstwerk wahrnehmen.

Diese Gefühle, die uns einzig und allein in der Betrachtung des
Kunstwerks zuteil werden, legen wir in das Kunstwerk als seine
Seele hinein; in den Formen des Kunstwerks also fühlen wir uns
selbst oder anders gesagt, was wir selbst fühlen, fühlen wir in einem
anderen, im Kunstwerk.

Aber während die eben gegebenen Sätze sich, einer fast all-
gemeinen Anerkennung erfreuen, so ist ein heftiger Streit über die
Frage entbrannt, welchen Charakter die Einfühlungsgefühle tragen.
Sind sie dem Wesen nach den Gefühlen gleich, die durch die Wirk-
lichkeit in uns ausgelöst werden, oder aber sind sie nur Erinnerungen
an solche Gefühle, Reproduktionen, denen das Emotionale am Gefühl
fehlt? Die Vertreter der konsequenten Einfühlungstheorie bestehen auf
der Realität dieser Gefühle. Namentlich Lipps betont immer wieder,
 
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