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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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Lange, Konrad von: Der Zweck der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0197
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DER ZWECK DER KUNST. 193

Wenn ich damit das Wesen der christlichen Religion, so wie es
sich mir als Laien darstellt, richtig gedeutet habe, so geht daraus, wie
ich glaube, unmittelbar hervor, daß die Kunst völlig und prinzipiell
von der Religion verschieden ist, daß also die Religion auch nie-
mals durch die Kunst ersetzt werden kann. Auch die Wissen-
schaft kann nicht durch sie ersetzt werden. Wir würden es bedauern,
wenn der Geist klarer und nüchterner Forschung, auf dem jede
Wissenschaft beruhen soll, durch das Spiel der künstlerischen Phan-
tasie verdrängt oder auch nur abgelenkt würde. Und wir müßten es
für den Tod aller Religion halten, wenn man den Glauben, ohne den
sie nicht sein kann, immer mehr in Phantasie auflösen, d. h. die Reli-
gion in Kunst umdeuten wollte.

Ich rekapituliere: Wohin wir im geistigen Leben des Menschen
blicken, überall stellt die Fähigkeit, in zwei Vorstellungsreihen zu
denken und zu fühlen, die höchste Stufe dar, die der Mensch erreichen
kann. Nur Menschen, die geistig frei genug sind, um in zwei Vorstel-
lungsreihen zu denken, können Witze machen und verstehen, haben
Sinn für Humor und Ironie, genießen den Lustwert des Komischen
und können frohe Feste feiern. Nur Kinder, die illusionsfähig sind,
können energisch und dauernd spielen und werden des Freiheits-
gefühls teilhaftig, das sich dem Spielenden mitteilt. Nur Gelehrte, die
in zwei Vorstellungsreihen denken können, sind wirklich produktiv
und erleben die höchsten Forscher- und Entdeckerfreuden. Nur Cha-
raktere, die sich durch Bildung einer zweiten Vorstellungsreihe auch
einmal über Sitte und Konvention erheben können, fühlen sich ihren
Mitmenschen gegenüber völlig frei. Nur religiöse Menschen, die mit
dem Dualismus Gott und Welt Ernst machen, erreichen das höchste
Ziel der Religion auf Erden, Freiheit von Welt und Sünde.

So mag man denn wohl die Bedeutung der Kunst darin sehen,
daß sie die hohe Schule für die Entwicklung einer psychischen Fähig-
keit ist, ohne die wir uns höheres geistiges Leben nicht denken
können. Und wer derartige Fragen gern metaphysisch weiterdenkt,
der mag wohl zu der Vermutung kommen, daß das Doppelerlebnis
der bewußten Selbsttäuschung aufs engste mit unserer ganzen körper-
lich-geistigen Organisation zusammenhängt. Vielleicht ist es nur eine
Erscheinungsform jenes Dualismus, der als Gegensatz von Leib und
Seele, Sein und Denken, Geist und Materie dem Aufbau der Welt
zugrunde liegt. Und so könnte vielleicht auch die Illusionstheorie,
obschon sie rein empirisch entstanden ist, von einer höheren Warte
gesehen ihr Scherflein zur Lösung der schwierigsten philosophischen
Probleme beitragen.

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. VII. 13
 
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