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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0313
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BESPRECHUNGEN. 309

alle sein und vorderhand noch lange wird für Allzuviele gar keine Kunst erreichbar
sein, aber deswegen sind die eben gehörten Worte nicht weniger wahr. Paul Ernst
hat kürzlich geschrieben: »Wenn man dem Volk in seiner geistigen Vereinsamung
helfen will, so soll man es auf die großen Dichter hinweisen und soll ihm sagen,
daß es die Arbeit auf sie verwenden muß, die seine tüchtigen Vorfahren • auf die
Bibel verwendet haben. Sollte nicht in den verdüsterten Geist eines Fabrikarbeiters
ein Strahl göttlichen Trostes fallen, wenn er ,Iphigenie' gefaßt hätte, sollte es
nicht eine Befreiung von seiner Not sein, wenn er ,Minna von Barnhelm' ver-
stände? Er kann es, wenn man es ihm sagt und wenn man ihn nicht mit dem
albernen Lesestoff der müßigen Glieder des ungebildeten Mittelstandes verdummt.«
Unser Verfasser fährt fort: »Aber man wendet ein, dem gemeinen Mann fehlten
die Vorbedingungen zum rechten Verständnis der Kunst, zum Genüsse des Schönen.
Mag sein, daß er sich nicht Rechenschaft zu geben vermag, warum dies ihm gefällt
und jenes ihn ergreift. Aber dieses bewußte Verarbeiten des Kunstwerks ist schließ-
' ]a n'cht die HauPtsache. Daß er sich angesprochen fühlt, daß unterm Zauber-
sabe der Kunst die betäubte Seele aufsteht und alles Niedrige von sich abwirft,
li h eutet docn mehr. Dieses unbefangene, nehmende Genießen, diese natür-
aI°j™e EmPiänglichkeit für die Welt des Schönen kennt der schlichte Mann fast mehr
seh v reflektierende oder der kunstwütige Gebildete.« Mag sein, weil er be-
eidener ist und nicht glaubt, sofort urteilen zu müssen, und vielleicht auch, weil
, wenigei' verlogen ist. Denn das Verlogene ist das größte Hemmnis der Auf-
der"^ lfeit fül Kunst, deren oberstes Gebot auch im Schaffen genau wie in
and °.'al die echte, ehrliche Gesinnung ist. Aber ob nun der schlichte Mann
daserseits n'cht gerade auch auf Werke hineinfällt, die dieses Echte nicht besitzen,
da erscneint mir nicht bloß fraglich, sondern wahrscheinlich; denn er ist wehrlos
gegen' die Unterscheidung des Echten und Unechten ist meist ein ziemlich
pa es Resultat und nur durch die Kenntnis auch von recht vielem Unehrlichen zu
esangf"\ °aß der einfache Mann nicht »von der Mode angekränkelt« ist, das tut
wahrlich noch nicht, der Verfasser sieht die Dinge viel zu einfach, wenn er
8 aubt, daß das »unverdorbene Gemüt echte Kunst von künstlerischer Verschroben-
• unterscheidet«. Und wenn er dann weiter fragt: »Ob der schlichte Mann nicht
ge"Ug aucn die gesundere Urteilsfähigkeit hat?«, so scheint mir das auf einem
Bz anderen Felde zu liegen als alles das, was dem schlichten Mann vielleicht
ne weiteres erreichbar wäre. Zum Urteil gehört Bewußtsein und die Fähigkeit
füfrt" formu'ieren; man kann also vielleicht sagen: Jene Leute haben gesundes Ge-
Urt -l°dei Instinkt oder eine richtige Ahnung, aber nicht die Klarheit, die zum
a]] e'en gehört. Aber jenes andere, »daß er sich angesprochen fühlt« usw., ist

r mgs mit Recht vom Verfasser vorangestellt und ist wichtig genug.
sei tntschiedener muß ich dem Autor entgegentreten, wenn er Schiller wegen
erkrl V°n Qoethe inm nachgerühmten »Christustendenz« für »den echten Künstler«
ist v? dCr Se'ne Sendung und Verantwortlichkeit begriffen habe, »und das allein
Kunstlertum«. Ach nein, andere, recht sehr andersartige Künstler sind nicht
eniger echt! Andere sind weniger agitatorisch, aber vielleicht seelisch noch
euscher, wenn auch nicht reiner als Schiller war, denn das ist freilich nicht wohl
möglich. »Der heilige Schiller-Idealismus« klingt bloß so laut, weil er das hohe
athos hatte. Besaß aber Mörike etwa, der vielleicht sein größter Antipode war,
°der Theodor Storm, dieser wundervolle Mensch und Künstler, weniger künstle-
rischen Idealismus? Mörike war der undramatischste Mensch, den unsere Literatur
ermt, aber er war so lauter wie Schiller und seine Werke sicherlich ausgegorener
a s Schillers zu Zeiten, der in der Begeisterung (oder auch zur Begeisterung) ge-
 
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