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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0474
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470 BESPRECHUNGEN.

gefaßt hätte, so darf es sich niemand herausnehmen, das ungereimte Zeug zu tadeln
oder gar darüber zu lachen: — der Lacher würde sich den Vorwurf gefallen lassen
müssen, für das »spezifisch Künstlerische«, in diesem Fall das »spezifisch Poetische«
mit unheilbarer Blindheit geschlagen zu sein.

Es ist aber klar, daß derartige Künstlerprätentionen erst hervortreten konnten,
nachdem der ältere, echte Naturalismus abgetan war und an seiner Stelle Symbolis-
mus und Gefühlsimpressionismus die Herrschaft an sich gerissen hatten. Denn eine
naturalistische Bildausführung, die nur insofern auch »impressionistisch« ist, als sie
dem Eindrucke entspricht, welchen normale, mit gesunden Sinnen begabte Menschen
bei unbefangener Beobachtung von dem Gegenstände empfangen, hat in der Rich-
tigkeit, in der Genauigkeit, womit dieser Eindruck wiedergegeben wurde, seinen
Maßstab. Soll aber nicht der objektive Eindruck, nicht das sinnliche Bild, sondern
die seelische Impression, die der Gegenstand hervorruft, ja noch mehr: gerade nur
diejenige Impression, die er zufällig im Gemüte des Künstlers hervorgerufen hat,
malerisch oder plastisch dargestellt werden, dann schwindet natürlich jede Möglich-
keit der Kritik: dann kann man eine Teekanne malen und das Bild »Winterabend«
nennen, kann man eine Mistgabel malen und das Bild »Herbst« überschreiben,
kann man die Zeichnung eines abgetretenen Stiefelabsatzes das eine Mal für ein
symbolisches Bild der stoischen Ethik und das andere Mal für eine künstlerische
Charakteristik der sozialen Bewegung ausgeben. Alles, das Tollste und Blödsinnigste,
darf man dann dem Publikum vorsetzen. Denn Stimmungen sind so unkontrollier-
bar wie die Ideenassoziationen, bei welchen ein und dieselbe an die Vorstellungen
sich heftende Stimmung das Bindeglied abgibt. Und weil die Stimmung oft an
der Vorstellung als solcher hängt, das Gemälde also, in welchem die Stimmung
sinnliche Gestalt gewinnen soll, dann nichts weiter zu leisten als überhaupt den
Gedanken zu erwecken hat, müssen diesfalls auch alle etwa von Seiten der Technik
gestellten Forderungen abgewiesen werden. Ja, noch mehr! Technische Mängel
lassen sich auf diesem Wege jederzeit in Vorzüge umdeuten. Man weise dem
Künstler die gröbsten Verzeichnungen, die falschesten, unnatürlichsten Farben-
gebungen nach: lächelnd und stolz erhobenen Hauptes wird er versichern, daß er
gerade dieser Abweichungen von der Wirklichkeit in Form und Farbe bedurft habe,
um die zarte Nuance des seelischen Zustandes, der in ihm erregt wurde, auszu-
drücken. Das Ding aber, dessen Anblick den Zustand erregte, braucht selbstver-
ständlich nicht das unmittelbar gezeichnete, auf der Leinwand oder dem Papier
erscheinende zu sein, welches nach dem Gesagten vielmehr häufig bloßes Symbol
ist: jenem anderen Dinge, dem wirklichen und gleichwohl unsichtbaren Vorwurfe
des Bildes, begegnet man nirgends als in dem Katalog der Gemäldegalerie oder
allenfalls im — Rahmen. Die Ära des Symbolismus und Impressionismus ist das
goldene Zeitalter der Faulheit und Unfähigkeit. Sicherlich gibt es auch sehr bedeu-
tende Künstler unter den Gefühlsimpressionisten und Stimmungsmalern. Aber das
ändert nichts an der Tatsache, daß der ästhetische Kanon dieser Richtung für
Schundarbeiten, die aus Mangel an Begabung, wie für Sudeleien, die aus Mangel
an Fleiß und Gewissenhaftigkeit entspringen, die bequemsten Ausreden bietet. Jene
oben gebrachten Fiktionen sind, so karikaturenhaft sie zunächst erscheinen, vielleicht
nicht einmal sehr krasse Übertreibungen. Wer wollte leugnen, daß man auf ähn-
liche Verrücktheiten in der Kunst unserer Tage hundert- und hundertfach wirk-
lich stößt?

Dieser tief beschämende Zustand hat offenbar Alt die Feder in die Hand ge-
drückt. Der verdienstvolle Ästhetiker begreift, daß alle Technik verfallen, aller
Schönheitssinn sich abstumpfen, aller künstlerische Ernst verloren gehen muß, wenn
 
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