474 BESPRECHUNGEN.
Urteil im Gefühl wurzelt, dann hat eben der Verstand nichts dreinzureden, sobald
einmal bestimmte Gefühle durch die Gegenstände erregt wurden; denn es ist ihm
genau so unmöglich, die betreffenden Tatsachen des emotionellen Lebens zu be-
streiten oder abzuändern, als es außer seiner Macht liegt, einem Faktum der äußeren
Wirklichkeit die Anerkennung zu versagen. Nun bietet Alt freilich einmal, gegen
den Schluß seiner Schrift, eine Formulierung, die eine solche Erschütterung der
Grundmauern unserer philosophischen Ästhetik vermeidet und gleichwohl das Recht
des Verstandes auf dem kunstkritischen Gebiete geltend macht. Er bestimmt das
Wesen jenes den Maßstab für die Schätzung von Kunstwerken abgebenden ästhe-
tischen Urteils, das er im Gegensatze zum »Geschmacksurteil«, welches ohne An-
gabe von Gründen sich äußert, das »fundierte« nennt, als »das vollständige, all-
seitige System der Ursachen des ästhetischen Genusses, deren Kenntnis wir _der
Erfahrung von allgemein anerkannten Voraussetzungen des Verstandes, von erweis-
lichen, zum Teil sogar exakt erweislichen Bedingungen der Sinnesempfindung und
von allgemein geteilten ästhetischen Gefühlen verdanken. Deshalb«, so schreibt er
weiter, »dürfen Verstandesschlüsse aus diesem Systeme gezogen werden, die bei
richtiger Schlußfolgerung wiederum den Tatsachen entsprechen müssen und auf
dem Boden der Vernunft nicht anfechtbar sind. Der volle Besitz des für eine Frage
in Betracht kommenden fundierten Kunsturteils und die Fähigkeit, es richtig zu
handhaben, ist das, was man als Sachverständnis' in der Beurteilung der Kunst-
werke bezeichnen darf. Die einzelnen Urteile können natürlich falsch ausfallen,
weil wir eben alle Menschen sind; das organische System der Ästhetik würde vor
Neuschöpfungen, deren Wertmesser in ihm nicht enthalten ist, auch der Revision
unterliegen; aber es wird durch Leistungen, die jenen allgemein zugegebenen, fest-
stehenden Bedingungen des Kunstgenusses widersprechen, nicht in Frage gestellt«
(S. 100—101). Diese Sätze scheinen unschwer zu deuten. Sieht man vorläufig ab
von der doppelten Rolle, welche hier der Verstand spielt, einerseits als Schöpfer
oder Ordner des Systems und anderseits als einer der in dem System ihren Platz
einnehmenden, demnach von dem Verstand in dem früheren Sinn vorgestellten oder
begriffenen Faktoren des Kunstgenusses, hält man sich nur an die erstere, theore-
tische Rolle, so sagt die obenanstehende Begriffsbestimmung mit anderen Worten:
das »fundierte ästhetische Urteil« ist nichts weiter als die durchdringende Kenntnis
der gefühlspsychologischen Gesetze, welche sich im Falle eines bestimmten ästhe-
tischen Gegenstandes bewähren, und die Fähigkeit zur Anwendung der Gesetze, so
daß man im vorhinein, ehe noch die Wirkung des Gegenstandes erprobt wurde,
den emotionellen Effekt voraussagen kann. Bei solcher Auffassung mögen selbst
die »allgemein geteilten ästhetischen Gefühle«, die man sonst wohlweislich auf sich
beruhen lassen müßte, hingehen: sie sind einfach zu verstehen als die unter den
gleichen Bedingungen psychologisch-gesetzmäßig auftretenden Gefühle, ohne daß
die wirkliche Gleichheit der Bedingungen bei allen einzelnen Personen angenommen
zu werden brauchte. Das »Urteil« geht in erster Linie auf die Gesetze oder, nach
Fechners Terminologie, »Prinzipe«; aber ein Widerspruch des »Urteils« mit der ein-
fachen, sich von selbst vollziehenden, ihrer Gründe nicht bewußten Gefühlsregung
ist natürlich vollkommen ausgeschlossen. Und in diesem Sinne kennzeichnet denn
auch Alt das Verhältnis des fundierten Kunsturteils zum gewöhnlichen Geschmacks-
urteil, indem er die angeführten Sätze noch durch die folgenden Erklärungen vor
Mißdeutung schützt: »Der ästhetische Genuß und der Kunstgenuß geht jedoch vor
sich nicht durch das reflektierende Denken, sondern durch das unmittelbare Gefühl.
Daher muß es auch eine Kraft geben, Kunstwerke unmittelbar zu beurteilen; eine
Kraft, deren Wirkungskreis genau so groß ist oder sein kann, wie der des Sach-
Urteil im Gefühl wurzelt, dann hat eben der Verstand nichts dreinzureden, sobald
einmal bestimmte Gefühle durch die Gegenstände erregt wurden; denn es ist ihm
genau so unmöglich, die betreffenden Tatsachen des emotionellen Lebens zu be-
streiten oder abzuändern, als es außer seiner Macht liegt, einem Faktum der äußeren
Wirklichkeit die Anerkennung zu versagen. Nun bietet Alt freilich einmal, gegen
den Schluß seiner Schrift, eine Formulierung, die eine solche Erschütterung der
Grundmauern unserer philosophischen Ästhetik vermeidet und gleichwohl das Recht
des Verstandes auf dem kunstkritischen Gebiete geltend macht. Er bestimmt das
Wesen jenes den Maßstab für die Schätzung von Kunstwerken abgebenden ästhe-
tischen Urteils, das er im Gegensatze zum »Geschmacksurteil«, welches ohne An-
gabe von Gründen sich äußert, das »fundierte« nennt, als »das vollständige, all-
seitige System der Ursachen des ästhetischen Genusses, deren Kenntnis wir _der
Erfahrung von allgemein anerkannten Voraussetzungen des Verstandes, von erweis-
lichen, zum Teil sogar exakt erweislichen Bedingungen der Sinnesempfindung und
von allgemein geteilten ästhetischen Gefühlen verdanken. Deshalb«, so schreibt er
weiter, »dürfen Verstandesschlüsse aus diesem Systeme gezogen werden, die bei
richtiger Schlußfolgerung wiederum den Tatsachen entsprechen müssen und auf
dem Boden der Vernunft nicht anfechtbar sind. Der volle Besitz des für eine Frage
in Betracht kommenden fundierten Kunsturteils und die Fähigkeit, es richtig zu
handhaben, ist das, was man als Sachverständnis' in der Beurteilung der Kunst-
werke bezeichnen darf. Die einzelnen Urteile können natürlich falsch ausfallen,
weil wir eben alle Menschen sind; das organische System der Ästhetik würde vor
Neuschöpfungen, deren Wertmesser in ihm nicht enthalten ist, auch der Revision
unterliegen; aber es wird durch Leistungen, die jenen allgemein zugegebenen, fest-
stehenden Bedingungen des Kunstgenusses widersprechen, nicht in Frage gestellt«
(S. 100—101). Diese Sätze scheinen unschwer zu deuten. Sieht man vorläufig ab
von der doppelten Rolle, welche hier der Verstand spielt, einerseits als Schöpfer
oder Ordner des Systems und anderseits als einer der in dem System ihren Platz
einnehmenden, demnach von dem Verstand in dem früheren Sinn vorgestellten oder
begriffenen Faktoren des Kunstgenusses, hält man sich nur an die erstere, theore-
tische Rolle, so sagt die obenanstehende Begriffsbestimmung mit anderen Worten:
das »fundierte ästhetische Urteil« ist nichts weiter als die durchdringende Kenntnis
der gefühlspsychologischen Gesetze, welche sich im Falle eines bestimmten ästhe-
tischen Gegenstandes bewähren, und die Fähigkeit zur Anwendung der Gesetze, so
daß man im vorhinein, ehe noch die Wirkung des Gegenstandes erprobt wurde,
den emotionellen Effekt voraussagen kann. Bei solcher Auffassung mögen selbst
die »allgemein geteilten ästhetischen Gefühle«, die man sonst wohlweislich auf sich
beruhen lassen müßte, hingehen: sie sind einfach zu verstehen als die unter den
gleichen Bedingungen psychologisch-gesetzmäßig auftretenden Gefühle, ohne daß
die wirkliche Gleichheit der Bedingungen bei allen einzelnen Personen angenommen
zu werden brauchte. Das »Urteil« geht in erster Linie auf die Gesetze oder, nach
Fechners Terminologie, »Prinzipe«; aber ein Widerspruch des »Urteils« mit der ein-
fachen, sich von selbst vollziehenden, ihrer Gründe nicht bewußten Gefühlsregung
ist natürlich vollkommen ausgeschlossen. Und in diesem Sinne kennzeichnet denn
auch Alt das Verhältnis des fundierten Kunsturteils zum gewöhnlichen Geschmacks-
urteil, indem er die angeführten Sätze noch durch die folgenden Erklärungen vor
Mißdeutung schützt: »Der ästhetische Genuß und der Kunstgenuß geht jedoch vor
sich nicht durch das reflektierende Denken, sondern durch das unmittelbare Gefühl.
Daher muß es auch eine Kraft geben, Kunstwerke unmittelbar zu beurteilen; eine
Kraft, deren Wirkungskreis genau so groß ist oder sein kann, wie der des Sach-