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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0486
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482 BESPRECHUNGEN.

Prinzips. Wenn das Kunstwerk eine Schöpfung des menschlichen Geistes ist, die
zwar aus dem Gefühle hervorgeht und sich wieder ans Gefühl wendet, die aber
doch auch unter der Herrschaft des Verstandes steht wie alle freien, bewußten
Schöpfungen des Menschen, und wenn anderseits die Vollkommenheit oder Unge-
brochenheit der Verstandesherrschaft einen Maßstab abgibt für die Wohlgefälligkeit
des Werkes, dann ist die Kunstkritik innerhalb gewisser Grenzen eine einfache,
selbstverständliche Sache. Je rationeller ein künstlerisches Produkt im Gedanken
und in der Ausführung erscheint, für um so vortrefflicher wird es ceteris paribas
gehalten werden müssen.

So weit wäre alles in schönster Ordnung. Aber eine Flut von Schwierigkeiten
bricht nun herein, wenn man sich die Natur des künstlerischen Bildens näher ver-
gegenwärtigt und hiernach sich darüber klar zu werden sucht, ob es möglich ist,
das Verständige oder Unverständige in der Kunst stets mit Sicherheit zu erkennen
und festzusetzen. Ich habe soeben gezeigt, daß die Anwendung des Kriteriums
der Verstandesgemäßheit durch die Freiheit des Kunstschaffens bedingt wird, —
die Freiheit nämlich in dem Sinne, daß die Kunst eine Produktion des intel-
ligenten menschlichen Willens ist. Allein die Freiheit des künstlerischen Bildens
geht viel weiter; sie besteht nicht bloß darin, daß die Produktionskraft des Künst-
lers mehr als bewußtlos schaffende Natur ist, sondern sie schließt dort, wo das
Bilden in der Hauptsache ein Abbilden ist, außerdem das Recht zu den weit-
gehendsten Veränderungen und Umgestaltungen der natürlichen Muster ein. Ohne
solche Umgestaltungen wären schon vermöge ihres Materials die Künste überhaupt
nicht denkbar. Fürs Erkennen bewährt sich der gesunde Verstand in der richtigen,
getreuen, unverfälschten Auffassung der Dinge, d. h. in dem, was ohne die Zweifel
der Erkenntnistheorie allgemein als solche Auffassung gilt, und sind seine Be-
mühungen auf die Erzeugung der genauesten, Sachgemäßesten Vorstellungen ge-
richtet, die eine conditio sine qua non auch für das seines Erfolges sichere Wollen
bedeuten. Im theoretischen wie im praktischen Leben bietet sich also dasselbe
Kennzeichen der Verständigkeit. Für die Kunst jedoch ist dieses Merkmal un-
brauchbar, wie eben die mannigfachen Umwandlungen der Vorbilder lehren. In
der Tat bringt schon die Konvention, die in jeder Kunstweise liegt, eine Reihe
größerer oder geringerer Abweichungen von der Realität der Dinge mit sich. Wenn
der Bildhauer lebendige Menschen in totem Stein darstellen und sie des Lebens und
der Farbe berauben, der Maler seinen Gegenständen zwar die Farbe lassen, aber
dafür die Körperlichkeit nehmen, der Zeichner gar die farbenbunte, nach allen Raum-
richtungen ausgedehnte Welt mit schwarzen Strichen auf einem flachen, weißen Papier-
blatte wiedergeben, der Epiker seine Personen in Versen reden lassen, der Dra-
matiker die Einbildung von uns fordern darf, daß zwischen Ereignissen, die sich
auf der Bühne in wenig Minuten folgen, Jahre oder Jahrzehnte verflossen seien,
dann muß man es wohl aufgeben, die Kunstanschauung unter dieselben Verstandes-
normen beugen zu wollen wie die Anschauung der Dinge im gemeinen Leben.

Vollends aber enthüllt sich der gewaltige Umfang der künstlerischen Lizenz,
wenn man sich erinnert, daß die Kunst nicht nur mit den unaufhebbaren, in Ma-
terial und Technik begründeten konventionellen Formen die Imagination in Anspruch
nimmt, sondern daß sie auch sonst das Reich der ungebundenen, frei schaffenden
Phantasie ist. Das Eine hängt übrigens mit dem Anderen zusammen. Die allge-
meinste künstlerische Konvention, derzufolge wir von jedem Werke der imitativen
Kunst nur Schein, nicht aber Realität verlangen und erwarten — Imitation ist nicht
Reproduktion —, ermächtigt offenbar die Phantasie, in keckem Fluge zu schweifen,
wohin es ihr beliebt, vorausgesetzt bloß, daß sie von ihrem Hauptziele nicht ganz-
 
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