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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0493
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BESPRECHUNGEN. 489

erreicht durch die Erwägungen, die früher bloß skizziert wurden, die sich jedoch
unschwer weiter ausspinnen lassen und die zur Überzeugung führen, daß die Kunst
nach dem Herzen der »Moderne«, jene Kunst, deren einzige oder hauptsächliche
Triebfeder in allen Entwicklungen der Drang nach Neuem, nach Abwechslung ist,
ohne Frage eine Verarmung und Verflachung der ästhetischen Genüsse bedeutet.
Es ist wahr: Alt hat diese Überlegungen nirgends gepflogen; er hat höchstens ganz
zum Schlüsse seiner Schrift auf den exogenen, ethischen Wertmaßstab hingedeutet,
indem er als notwendige Konsequenz der biologischen Kunstanschauung Konrad
Langes die Folgerung bezeichnet, »daß die Beschäftigung mit einer depravierten
oder depravierenden, schlechten oder herabziehenden Kunst nur eine Verschlechte-
rung der Gattung und ihrer Geistesgaben oder Gefühle herbeiführen könne«, und
hinzufügt: »Das aber wäre die Feststellung der Notwendigkeit einer normativen
Ästhetik. Was für eine Kunst wir zu genießen vorziehen, darauf kommt es an.«
Allein gerade angesichts dieses Zusatzes darf man wohl vermuten, daß die richtige
| roblemlösung ihm überall als Motiv der Gedankenentwicklung vorschwebte, und
jedenfalls lassen sich mittels der Konzeptionen, in welchen die Lösung besteht,
seine eigenen Raisonnements auf eine Weise ergänzen, die den letzteren nicht den
mindesten Zwang antut, trotzdem aber alle Lücken der unmittelbar vorliegenden
Argumentation ausfüllt, alle Widersprüche beseitigt und damit seinen positiven Auf-
stellungen eine Solidität verleiht, welche zu erschüttern nicht leicht sein dürfte.

Ein philosophisch ungeschulter Leser könnte nun vielleicht zweifeln, ob es
wirklich keine andere Lösung der Frage, keine direktere, einfachere Sanktion der
«unstästhetischen Normen gebe. Die Grundsätze, deren ich mich hier bedient und
die ich schon früher in dieser Zeitschrift als die allein zulässigen Prinzipien der
Wertbestimmung von Kunsturteilen knapp entwickelt habe, muten ja unstreitig
etwas abstrakt und theoretisch an. Anderseits liegt es nahe, einen sehr konkreten
Gesichtspunkt für die Möglichkeit von Unterscheidungen und Gradabstufungen be-
züglich des Kunstgeschmacks schon darin zu finden, daß nicht nur die ästhetischen
Schätzungen seitens des großen Publikums und seitens der Künstler bekanntlich
vielfach auseinandergehen, sondern daß auch der Laiengeschmack selbst mit Er-
weiterung der Kunstanschauung und mit zunehmender Übung im Auffassen von
Kunstwerken sich allenthalben ändert. Da braucht man, so scheint es, nur die alte
sokratische Betrachtungsart zu erneuern und auch im Bereiche der Kunst die Fähig-
keit des richtigen Urteilens denjenigen zuzuerkennen, welche die Sache, d. h. die
Kunst gelernt haben, und denjenigen abzusprechen, die diesen Kundigen als Un-
kundige gegenüberstehen. Indes liegt die Sache doch nicht so einfach. Wenn
bei Sokrates selber die Identifikation des Tugendhaften mit dem Menschen, der
gelernt hat oder weiß, was die Tugend ist, im Hinblick auf das Wesen sitt-
licher Gesinnung bis zum Komischen naiv anmutet, so wäre die auf Grund einer
analogen Vorstellungsweise versuchte Erhebung des Künstlergeschmacks zur Norm
für die Kunstschätzungen nicht minder verkehrt und lächerlich. Die Kunst verstehen
heißt doch nicht bloß ihre Technik sich zu eigen gemacht haben, sondern vor allem
begreifen, was die Aufgabe, das Ziel der Kunst ist. Und dieses Ziel kann, soweit
es sich nicht mit den Absichten deckt, welche Wundts Völkerpsychologie auf das
gründlichste bloßgelegt hat, schlechterdings in nichts anderem als dem ästhetischen
Genüsse gefunden werden. Gefällt also das Kunstwerk nicht, verschafft es nicht
den Genuß, den man von ihm erwartet, dann hat es seinen Zweck verfehlt, wie
virtuos gleich sein Urheber die Technik beherrschen möge, und ist sonach dieser
Urheber selbst ein »Unwissender« und »Unkundiger«. Daß die Meinung des Künst-
lers, der die Kunst »gelernt« hat, von vornherein am meisten Glauben und Zutrauen
 
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