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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0495
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BESPRECHUNGEN. 4g \

ist nicht ein fester Schönheitssinn, der von besonders wertvollen Tendenzen be-
herrscht würde — nirgends streitet man ja so heftig über das Recht der einzelnen
Tendenzen wie in Künstlerkreisen —, er ist einfach der Schönheitssinn der besser,
richtiger sehenden Menschen, welcher jedoch in seiner inneren Struktur, bezüglich
seiner Grunddispositionen die größten Verschiedenheiten aufweist. Die Erwerbung
der Gabe, genau zu sehen, vor allem sich über die wirklichen, unmittelbaren Ge-
sichtseindrücke gute Rechenschaft zu geben, entspricht nun aber selbstverständlich
dem Interesse der allgemeinen Geistesbildung.

Im übrigen wird bei dieser populären Auffassung, nach welcher man in der Zu-
gehörigkeit eines bestimmten Geschmacks zum Künstlertum oder wenigstens zu künst-
lerischer Bildung ein Kennzeichen seiner Güte zu besitzen glaubt, auch noch nach
anderer Richtung von den allgemeinen ästhetischen Wertkriterien, ohne daß man es
weiß, Gebrauch gemacht. Es ist vor allem das Kriterium der ästhetischen Reinheit,
das hier ins Spiel kommt — jenes eigenartige Schätzungsmittel, das gleichfalls als
»endogen« bezeichnet werden könnte und doch von den anderen »endogenen« Maß-
stäben verschieden ist, weil man nicht auf Intensität, Dauer, Unlustfreiheit oder Verbrei-
tung des ästhetischen Genusses achtet, sondern den ausgesprochenen, unverfälschten
ästhetischen Charakter des Genusses schätzt, das also den Gedanken vom Werte
des ästhetischen Lebens überhaupt zur Grundlage hat und insofern auf die exo-
genen, ethischen Maßstäbe zurückweist. Fortgesetzte Beschäftigung mit Kunst-
werken oder gar eigene künstlerische Tätigkeit rückt nicht bloß zahlreiche reizvolle
Züge, an denen der Unerfahrene vorübergeht, in den Brennpunkt der Aufmerksam-
keit und erhöht so, wie gezeigt wurde, die Geschicklichkeit, Quellen ästhetischer
Lust aufzuspüren, sondern steigert auch die Fähigkeit zu spezifisch ästhetischem
Verhalten gegenüber dem Kunstwerke. Es ist kein Zweifel, daß vermöge des
Hauptzweckes und der Hauptwirkungen der Kunst die aus ihr geschöpften Genüsse
bei Personen, welche sich ganz ihr widmen oder zum mindesten durch vielfältige
Anschauung in der Aufnahme ihrer Hervorbringungen geübt sind, eine höhere
ästhetische Reinheit vor dem oft grob affektiven, oft stark persönlich gefärbten
Genüsse voraus haben werden, den der Mann aus dem Volke in den nämlichen
Hervorbringungen sucht und findet, und man hat allen Grund, zu glauben, daß
solche durch häufige und andauernde Kunstbetrachtung ästhetisch erzogene Per-
sonen auch zur gemeinen Wirklichkeit der Dinge leichter jene glückliche Stellung
gewinnen können, welche Widerwillen, Verdruß und Pein wie mit Zauberkräften
in still beseligtes Schauen verwandelt. Auf diese Weise erscheint die Bedingt-
heit des Geschmacks durch Kunstübung oder künstlerische Bildung allerdings als
ein Vorzug und rechtfertigt es sich einigermaßen, daß man im gewöhnlichen
Leben das Urteil der sogenannten Kunstverständigen für überlegen und muster-
gültig zu halten pflegt. Leute, die in irgend einem Falle den Geschmack der
Kenner nicht teilen können, schämen sich förmlich dieses Umstandes und geben
fast ohne Widerstreben zu, daß das Gewicht ihrer Schätzung, sei diese noch so be-
stimmt, durch ein noch so starkes Gefühl diktiert, nicht entfernt an das Gewicht des
Eindrucks heranreiche, den die Künstler und »Sachverständigen« empfangen haben.
Darin steckt nun freilich viel Naivität, viel unbewußte possierliche Neusokratik;
aber gänzlich ist nach dem hier Auseinandergesetzten das Wertmerkmal des Ur-
sprungs aus eigener Kunstpflege und reicher Kunstanschauung für die Geschmacks-
kritik doch nicht von der Hand zu weisen, wenn es sich auch eine Ableitung aus
den allgemeineren Kriterien gefallen lassen muß und erst durch diese und nur so
weit, als es in ihnen seine Begründung findet, legitimiert scheint. Jedenfalls wird
es unzählige Male benutzt; ja, man darf sagen, daß beinahe sämtliche Anhänger
 
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