BESPRECHUNGEN. 519
Alt wirklich, daß ein Mensch mit einem Gorillagebiß schlechter beißen, mit Orang-
Utan-Armen ungeschickter greifen würde? Glaubt er, daß ein aufs äußerste ge-
steigerter Prognathismus irgend welchen biologischen Nachteil involviert, wenn sich
die vorspringende Schnauze zugleich mit einer rüsselartigen Verlängerung der Nase
wie beim Kahau verbindet, so daß das Zuströmen der Riechluft nach keiner Rich-
tung behindert ist? Derartiges könnte man höchstens annehmen, wenn in der Tat
jede Reduktion der Organe auf das absolut notwendige Mindestmaß einen Gewinn
infolge von Substanzverringerung bedeutete; allein ebensogut läßt sich die ent-
gegengesetzte Ansicht vertreten, wonach die ersten der genannten Häßlichkeiten
ein Plus von Zweckmäßigkeit vorstellen, indem sie ihren Träger befähigen, eine
größere Zahl von Feinden abzuwehren. Überdies dürften heute selbst die ent-
schiedensten Darwinisten und Lamarckisten keine Lust haben, jede innere mecha-
nische Gesetzmäßigkeit der Formenbildung zu leugnen und die einen die natür-
liche Auslese, die anderen die aktive Adaptation für die sämtlichen Charaktere,
welche ein Organismus zur Schau trägt, verantwortlich zu machen. Darwins
eigene Lehre von der sexuellen Zuchtwahl verlangt, daß wenigstens das höhere
Tier nicht in allen Einzelheiten seiner äußeren Erscheinung durch die natürliche
Selektion gemodelt werde, weil sonst für jene erstere Zuchtwahl offenbar kein
Raum bliebe. Wenn es aber künftig etwa gelingen sollte, mittels geheimnisvoller
Korrelationen, die übrigens selbst ein eklatanter Ausdruck mechanischer Formen-
gesetze wären, einen Teil der an sich gleichgültigen Einrichtungen im Bau des
' Tier- und Pflanzenkörpers indirekt dem Zweckmäßigkeitsprinzip zu unterwerfen, so
müßte vor allem gefragt werden, wie es nur möglich sei, daß dasjenige, was sich
heute dem tiefsteindringenden Forscher noch nicht erschließt, klar von jedermann
erkannt wird, der ein Lebewesen oder vielmehr die Gestalt desselben ästhetisch
betrachtet. Die »plastische«, organische Schönheit des Menschen, um die es sich
für Alt in erster Linie handelt, regelt die Proportionen des menschlichen Körpers
bis ins einzelnste; sie schreibt jedem Teile eine ganz bestimmte Bildung vor: wir
spenden das Lob der Schönheit, wo diese Vorschriften erfüllt sind, verweigern es
oder stimmen es herab, wo ihnen gar nicht oder nur unvollkommen entsprochen
wurde. Kein Anatom der Welt aber ist bei vielen dieser minutiösen Schönheits-
regeln imstande, irgend einen Nutzen zu entdecken, der aus ihrer Einhaltung dem
Organismus erwüchse. Und was das geschärfte, nicht nur theoretisch klarer blickende,
sondern auch mit allen Hilfsmitteln der Technik bewaffnete Auge der Wissenschaft
nicht sieht, das soll im Moment von dem Nächstbesten aufgefaßt werden können,
der, ohne zu grübeln, sich vor die schöne Erscheinung hinstellt und ihre Form-
verhältnisse zum Gegenstand ästhetischer Anschauung macht?!
Hiermit ist jedoch bereits der letzte und schwerste Mangel der Altschen Vor-
stellungsweise berührt. Indem sie den ästhetischen Objektivismus nicht für alles
Schöne in der Welt, sondern nur für eine einzige Klasse von Objekten, eben für
die Tier- und Pflanzengestalten, mit Einschluß, ja Obenanstellung des Menschen, zur
Geltung bringt, macht sie ihre Ergänzungsbedürftigkeit aller Augen sichtbar. Denn
es ist klar, daß, falls überhaupt ein objektiver Begriff des Schönen gebildet werden
kann, derselbe nicht bloß für diese oder jene Schönheit passen, sondern auf sämt-
liche Arten schöner Gegenstände Anwendung finden muß, und daß umgekehrt,
wenn die neuere Ästhetik recht hat, durchgehends und überall auf das Ver-
halten des Gefühls zu den Dingen als auf das fundamentale Kriterium der ästhe-
tischen Eigenschaften zurückzugreifen ist. Entscheidet nun, wie Alt selbst fordert,
tatsächlich die Lust oder Unlust bei einer gewissen subjektiven Einstellung über
das Vorhandensein von Schönheit oder Häßlichkeit, haben daher diese Begriffe im
Alt wirklich, daß ein Mensch mit einem Gorillagebiß schlechter beißen, mit Orang-
Utan-Armen ungeschickter greifen würde? Glaubt er, daß ein aufs äußerste ge-
steigerter Prognathismus irgend welchen biologischen Nachteil involviert, wenn sich
die vorspringende Schnauze zugleich mit einer rüsselartigen Verlängerung der Nase
wie beim Kahau verbindet, so daß das Zuströmen der Riechluft nach keiner Rich-
tung behindert ist? Derartiges könnte man höchstens annehmen, wenn in der Tat
jede Reduktion der Organe auf das absolut notwendige Mindestmaß einen Gewinn
infolge von Substanzverringerung bedeutete; allein ebensogut läßt sich die ent-
gegengesetzte Ansicht vertreten, wonach die ersten der genannten Häßlichkeiten
ein Plus von Zweckmäßigkeit vorstellen, indem sie ihren Träger befähigen, eine
größere Zahl von Feinden abzuwehren. Überdies dürften heute selbst die ent-
schiedensten Darwinisten und Lamarckisten keine Lust haben, jede innere mecha-
nische Gesetzmäßigkeit der Formenbildung zu leugnen und die einen die natür-
liche Auslese, die anderen die aktive Adaptation für die sämtlichen Charaktere,
welche ein Organismus zur Schau trägt, verantwortlich zu machen. Darwins
eigene Lehre von der sexuellen Zuchtwahl verlangt, daß wenigstens das höhere
Tier nicht in allen Einzelheiten seiner äußeren Erscheinung durch die natürliche
Selektion gemodelt werde, weil sonst für jene erstere Zuchtwahl offenbar kein
Raum bliebe. Wenn es aber künftig etwa gelingen sollte, mittels geheimnisvoller
Korrelationen, die übrigens selbst ein eklatanter Ausdruck mechanischer Formen-
gesetze wären, einen Teil der an sich gleichgültigen Einrichtungen im Bau des
' Tier- und Pflanzenkörpers indirekt dem Zweckmäßigkeitsprinzip zu unterwerfen, so
müßte vor allem gefragt werden, wie es nur möglich sei, daß dasjenige, was sich
heute dem tiefsteindringenden Forscher noch nicht erschließt, klar von jedermann
erkannt wird, der ein Lebewesen oder vielmehr die Gestalt desselben ästhetisch
betrachtet. Die »plastische«, organische Schönheit des Menschen, um die es sich
für Alt in erster Linie handelt, regelt die Proportionen des menschlichen Körpers
bis ins einzelnste; sie schreibt jedem Teile eine ganz bestimmte Bildung vor: wir
spenden das Lob der Schönheit, wo diese Vorschriften erfüllt sind, verweigern es
oder stimmen es herab, wo ihnen gar nicht oder nur unvollkommen entsprochen
wurde. Kein Anatom der Welt aber ist bei vielen dieser minutiösen Schönheits-
regeln imstande, irgend einen Nutzen zu entdecken, der aus ihrer Einhaltung dem
Organismus erwüchse. Und was das geschärfte, nicht nur theoretisch klarer blickende,
sondern auch mit allen Hilfsmitteln der Technik bewaffnete Auge der Wissenschaft
nicht sieht, das soll im Moment von dem Nächstbesten aufgefaßt werden können,
der, ohne zu grübeln, sich vor die schöne Erscheinung hinstellt und ihre Form-
verhältnisse zum Gegenstand ästhetischer Anschauung macht?!
Hiermit ist jedoch bereits der letzte und schwerste Mangel der Altschen Vor-
stellungsweise berührt. Indem sie den ästhetischen Objektivismus nicht für alles
Schöne in der Welt, sondern nur für eine einzige Klasse von Objekten, eben für
die Tier- und Pflanzengestalten, mit Einschluß, ja Obenanstellung des Menschen, zur
Geltung bringt, macht sie ihre Ergänzungsbedürftigkeit aller Augen sichtbar. Denn
es ist klar, daß, falls überhaupt ein objektiver Begriff des Schönen gebildet werden
kann, derselbe nicht bloß für diese oder jene Schönheit passen, sondern auf sämt-
liche Arten schöner Gegenstände Anwendung finden muß, und daß umgekehrt,
wenn die neuere Ästhetik recht hat, durchgehends und überall auf das Ver-
halten des Gefühls zu den Dingen als auf das fundamentale Kriterium der ästhe-
tischen Eigenschaften zurückzugreifen ist. Entscheidet nun, wie Alt selbst fordert,
tatsächlich die Lust oder Unlust bei einer gewissen subjektiven Einstellung über
das Vorhandensein von Schönheit oder Häßlichkeit, haben daher diese Begriffe im