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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0527
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BESPRECHUNGEN. 523

für die höheren Sphären, und so wie man nach dem Beispiele des schottischen
Denkers bei Anlegung einer Straße von der geraden Linie, ohne ästhetisches Miß-
fallen hervorzurufen, nur abweichen kann, wenn Grund zu solcher Abweichung vor-
handen ist, so darf auch die Kunst von den Linien der menschlichen Schönheit sich
nur entfernen, wenn die Entfernung sachlich motiviert ist. An den Köpfen von
Gabriel Max' berühmtem Bilde der Ahnen des Menschengeschlechts wird der
ästhetische Sinn sich nicht stoßen; wecken sie auch vielleicht Zweifel an der Rich-
tigkeit der phylogenetischen Rekonstruktion, so sind sie doch künstlerisch tadellos.
Ein Kopf aber mit ausgesprochen pithekoider Gesichtsbildung, wie ihn einmal
Schad-Roßa auf dem Katalog einer Ausstellung seiner Gemälde angebracht hat, ist
häßlich und lächerlich zugleich, weil kein einziges der Gemälde vermöge seines
Gegenstandes die Anthropoidenschnauze erklärt. Dieser Kopf ist nicht minder
als das Weib von unheimlicher Häßlichkeit, das einzelne jetzt kursierende Banknoten
zeigen, ein Seitenstück zu jenen unmotivierten Nuditäten, wie sie in der modernen
Kunst sich breit machen. Wie oft sieht man nicht splitternackte Figuren inmitten
einer Szene, nach deren ganzem Charakter die Nacktheit der Person im höchsten
Grade unwahrscheinlich ist! Wider diese unverständliche und darum unverständige
Nudität anzukämpfen, für solche Fälle der Menschenleibdarstellung die Rückkehr
zum alten mythologischen oder Phantasiehintergrunde zu fordern, hätte nichts
gemein mit dem Feldzuge der Tartufferie gegen die künstlerische Nacktheit, wäre
im Gegenteile ebenso verdienstlich wie der Kampf gegen die unverständliche und
unverständige Häßlichkeit. Die Vorschrift, nicht ohne Grund Unschönes darzu-
stellen und dies nur dort zu tun, wo der Verlust der reinen, gegenständlichen durch
den Gewinn der charakteristischen und Stimmungsschönheit wettgemacht wird,
würde sich in der Tat zu einer kunstästhetischen Norm eignen. Wenn aber auf
diese Weise der Verstand, dem ja das Urteil über genügende oder ungenügende
Motivation zusteht, wirklich als kritische Instanz entsprechend der Altschen Auf-
fassung zu Ehren gebracht wird, so entscheiden in Kunstgebieten, welchen, wie
der Karikatur, die Umgehung der Schönheitsnormen grundsätzlich nicht zu ver-
weigern ist, noch andere Momente über den Grad der im allgemeinen erlaubten
Häßlichkeiten. Es will mir scheinen, als ob unsere Zeit auch in dieser Hinsicht,
sozusagen in der Einhaltung der Intensitäts- neben den Exteusionsgrenzen des Häß-
lichen, das richtige Maß verloren habe. Ein politisch-satirisches Blatt der Gegen-
wart, das in seinen naturtreuen wie in manchen stilisierten und gewöhnlich kari-
kierenden Bildern Beispiele höchster, Hogarth und alles frühere weit zurücklassender
Kunst bietet, beleidigt in anderen Karikaturen mit geradezu empörender Brutalität
den guten Geschmack. Diese Manier, ungeheuerliche Mißgeburten als Menschen
vorzusetzen, dieses Übermaß von Häßlichkeit, diese Karikatur der Karikatur ist
nicht nur sinnlos, sondern auch deshalb zu verwerfen, weil unweigerlich die Vor-
stellung der Schlamperei oder Ungeschicklichkeit des Künstlers dadurch erweckt
wird. Starre Normen sind hier unmöglich; aber ein Gefühl, welches den Grad der
jeweils zulässigen Häßlichkeit angibt, täte der modernen Kunst ebenfalls viel drin-
gender not als die Erinnerung an die selbstverständliche, von niemandem bezweifelte
Tatsache, daß die Schönheit des Menschen und jeder einzelnen Tierart in einen
relativ engen Umkreis von Formen eingeschlossen ist.

Mit diesen Hindeutungeu auf aktuelle Zeitfragen glaube ich das Geschäft
meiner kritischen Untersuchung beendigt zu haben. Es war mir nur um die Prü-
fung des Wertes und der Wichtigkeit der Gedanken Alts selber und vornehmlich
um die Beantwortung der Frage zu tun, inwieweit das Ziel der Begründung einer
normativen Ästhetik durch sie erreicht oder wenigstens näher gebracht wird. Ich
 
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