KRITIK DER EINFÜHLUNGSTHEORIE. 565
leicht so kräftig sein, daß ein solcher Zauber von ihr ausgeht. Am
ehesten wird die natürliche oder die künstlerische Landschaft solcher
Reize fähig sein. Möglich, daß man die feierliche Erhabenheit und
Stille des Todes, wie sie aus Böcklins Toteninsel zu uns spricht, nicht
bloß intuitiv erkennt und sich von ihr die ästhetische Lust, die sie
bewirkt, mit einem Gefühl feierlicher Erhabenheit färben läßt, sondern
daß wir mit diesem Erhabenheitsgefühl in ihr untergehen, daß wir
also wirklich einfühlen. Ist es doch, als lägen diese Gefühle in der
Landschaft selbst, als fühlte sie sich selbst erhaben und feierlich in
ihrer majestätischen Stille. Am günstigsten für das Einfühlen ist die
Stimmungskunst par excellence, die Musik gestellt. Nicht nur, weil wir
uns ihr gegenüber fast immer schon nachfühlend verhalten, sondern
vor allem deshalb, weil sie immer zugleich das erhöhte Seinsgefühl,
das von der Schönheit ausgeht, nicht bloß im Beschauer wirkt, sondern
in sich selbst zu tragen und auszusprechen scheint. Denn der Wohl-
laut, der in der Musik jede Stimmung, den Schmerz ebenso wie die
Freude umtönt, klingt uns wie die Offenbarung einer unsagbaren
Seligkeit. Es ist, als wäre die Wonne, die uns die Musik erweckt, in
ihr selbst Klang geworden. So trägt sie die Aufforderung in sich,
nicht bloß ihren Stimmungsgehalt mit einer bald heiter, bald schmerz-
lich, bald feierlich gestimmten Lust wahrzunehmen, wie wir es sonst
gegenüber dem Kunstwerk tun, sondern in ekstatischer Lust mitzu-
schwelgen in dieser Seligkeit und unsere Seele in der Seele der Musik
zu verlieren. In keiner Kunst werden wir so oft in diesen Wonne-
zustand versetzt, in dem das Ich restlos aufgeht im Kunstwerk. Viel
weniger oft gewährt uns der Natur der Sache gemäß die Lyrik diese
Möglichkeit. Doch sind auch in ihr die Gedichte nicht selten, in
denen das lyrische Subjekt selbst sich erhebt aus der Niederung und
sich selbst erfüllt weiß von reinem höherem Leben. An solchen
Stücken mag sich der Hörer restlos ineinsfühlen mit dem lyrischen
Subjekt. Es ist bezeichnend, daß Groos, der als das Ziel, dem der
Kunstgenuß jederzeit zustrebt, das Aufgehen des Betrachters im Kunst-
werk verlangt, zum Erweis seiner Forderung ein Gedicht ausgewählt
hat, das in der Tat dieses Aufgehen zuläßt (Groos, Der ästhetische
Genuß, S. 263). Auch die Architektur ist reine Stimmungskunst und
mag selbst erfüllt erscheinen von dem Gefühl der Erhabenheit oder
Anmut, das sie uns einflößt. Deshalb mögen wir die Feierlichkeit
eines gotischen Doms, die unser Lebensgefühl in festliche Höhen
trägt, auch in der Form erfahren, daß wir uns emporgetragen fühlen
nicht bloß durch seine Formen, sondern auch in ihnen. Wir mögen
mit ihm emporstreben aus körperlicher Schwere ins vergeistigt Leichte
und Übersinnliche. Das Schauspiel steht mitten inne zwischen Epik
leicht so kräftig sein, daß ein solcher Zauber von ihr ausgeht. Am
ehesten wird die natürliche oder die künstlerische Landschaft solcher
Reize fähig sein. Möglich, daß man die feierliche Erhabenheit und
Stille des Todes, wie sie aus Böcklins Toteninsel zu uns spricht, nicht
bloß intuitiv erkennt und sich von ihr die ästhetische Lust, die sie
bewirkt, mit einem Gefühl feierlicher Erhabenheit färben läßt, sondern
daß wir mit diesem Erhabenheitsgefühl in ihr untergehen, daß wir
also wirklich einfühlen. Ist es doch, als lägen diese Gefühle in der
Landschaft selbst, als fühlte sie sich selbst erhaben und feierlich in
ihrer majestätischen Stille. Am günstigsten für das Einfühlen ist die
Stimmungskunst par excellence, die Musik gestellt. Nicht nur, weil wir
uns ihr gegenüber fast immer schon nachfühlend verhalten, sondern
vor allem deshalb, weil sie immer zugleich das erhöhte Seinsgefühl,
das von der Schönheit ausgeht, nicht bloß im Beschauer wirkt, sondern
in sich selbst zu tragen und auszusprechen scheint. Denn der Wohl-
laut, der in der Musik jede Stimmung, den Schmerz ebenso wie die
Freude umtönt, klingt uns wie die Offenbarung einer unsagbaren
Seligkeit. Es ist, als wäre die Wonne, die uns die Musik erweckt, in
ihr selbst Klang geworden. So trägt sie die Aufforderung in sich,
nicht bloß ihren Stimmungsgehalt mit einer bald heiter, bald schmerz-
lich, bald feierlich gestimmten Lust wahrzunehmen, wie wir es sonst
gegenüber dem Kunstwerk tun, sondern in ekstatischer Lust mitzu-
schwelgen in dieser Seligkeit und unsere Seele in der Seele der Musik
zu verlieren. In keiner Kunst werden wir so oft in diesen Wonne-
zustand versetzt, in dem das Ich restlos aufgeht im Kunstwerk. Viel
weniger oft gewährt uns der Natur der Sache gemäß die Lyrik diese
Möglichkeit. Doch sind auch in ihr die Gedichte nicht selten, in
denen das lyrische Subjekt selbst sich erhebt aus der Niederung und
sich selbst erfüllt weiß von reinem höherem Leben. An solchen
Stücken mag sich der Hörer restlos ineinsfühlen mit dem lyrischen
Subjekt. Es ist bezeichnend, daß Groos, der als das Ziel, dem der
Kunstgenuß jederzeit zustrebt, das Aufgehen des Betrachters im Kunst-
werk verlangt, zum Erweis seiner Forderung ein Gedicht ausgewählt
hat, das in der Tat dieses Aufgehen zuläßt (Groos, Der ästhetische
Genuß, S. 263). Auch die Architektur ist reine Stimmungskunst und
mag selbst erfüllt erscheinen von dem Gefühl der Erhabenheit oder
Anmut, das sie uns einflößt. Deshalb mögen wir die Feierlichkeit
eines gotischen Doms, die unser Lebensgefühl in festliche Höhen
trägt, auch in der Form erfahren, daß wir uns emporgetragen fühlen
nicht bloß durch seine Formen, sondern auch in ihnen. Wir mögen
mit ihm emporstreben aus körperlicher Schwere ins vergeistigt Leichte
und Übersinnliche. Das Schauspiel steht mitten inne zwischen Epik