Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

DOI Artikel:
Utitz, Emil: Außerästhetische Faktoren im Kunstgenuß
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0636
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
632 EMIL UTITZ.

wenn wir die ganze Überfülle von Kunstwerken mustern und vor
allem auch vor den extremen Grenzfällen nicht zurückscheuen, so
finden wir, in welch verschiedene Richtungen die ihnen angemessenen
Auffassungen weisen, und erhalten schon so voneinander abweichende
bedeutsame Ausprägungen des kunstgenießenden Verhaltens. Und
Personen, die »Kunstwerke« —- wir verwenden hier das Wort in
weitester Bedeutung — vor allem schätzen und aufsuchen, die zu
einem ganz bestimmten Verhalten auffordern, etwa zu Erlebenszustän-
den, die ihre besondere Färbung von ethischen oder sexuellen Mo-
menten erhalten, oder auch von der starken Erregungslust, die werden
dann auch in anders gestimmten Kunstwerken in erster Linie meist
diese Momente suchen, sich in dieser Weise einstellen. Hier können
wir nun in mannigfaltigster Weise reiche Belege sammeln und diese
noch vermehren durch zahlreiche gedruckte Aufzeichnungen, in denen
verschiedene Persönlichkeiten ihre Kunsteindrücke schildern. Zwei
große Vorteile haben wir, wenn wir den hier gekennzeichneten Wegen
folgen, vor dem Laboratoriumsexperiment voraus: wir bewegen uns
im wirklichen, warm pulsierenden Leben, und uns stehen unvoreinge-
nommene Versuchspersonen in Hülle und Fülle zur Verfügung. Aller-
dings zu streng mathematischen Resultaten gelangen wir nicht; aber
diese Exaktheit ist hier auch gar nicht notwendig, solange wir nur
die Grundlagen erforschen wollen. Die zahlenmäßige Bestimmung
würde erst dann Wert gewinnen, wenn wir daran gingen, die Fragen
zu entscheiden, wie hoch der Prozentsatz jener, oder der absolute
Anteil einer bestimmten Menge sind, deren kunstgenießendes Verhalten
eine bestimmte Richtung bevorzugt. Allerdings ergeben sich hier
ganz bedeutende Unterschiede nach Zeit und Volksangehörigkeit, auf
die wir schon durch eine oberflächliche Betrachtung der Kunstwerke
hingewiesen werden, die besonders gefallen oder gefallen haben, und
dessen, was eben an ihnen so besonders geschätzt wird. Aber diese
— höchst interessanten — Fragen können erst mit begründeter Aus-
sicht auf Erfolg (feste Zahlenergebnisse werden sich aber schwerlich
erreichen lassen und würden wohl nur eine scheinbare, in Wirklichkeit
nicht vorhandene Exaktheit vortäuschen) untersucht werden, wenn vor-
erst unsere Probleme geklärt sind, denn ihre Lösung bringt erst die
Auffassung, welche jene Forschungen ermöglicht. Es ergibt sich hier
eine interessante Analogie zur modernen Kunstgeschichte: lange Zeit
hat sie die Entwicklung der Kunst unter dem Gesichtspunkt eines
Ideals — meist des klassischen — verfolgt und deshalb sie als eine
Geschichte des künstlerischen Könnens betrachtet, das ständig im
Dienste der gleichen Aufgabe einmal in erhöhtem Maße hervorbricht
und das andere Mal erlahmt und versagt. Heute sieht man mehr und
 
Annotationen