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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0660
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656 BESPRECHUNGEN.

werden kann, sie begrifflich zu lehren. So bahnbrechend nun auch Riemanns
Arbeiten auf diesem Gebiete sind, so wenig können, sie doch abschließend genannt
werden. Seine Grundidee (die schon Rameau vorschwebte), ist unanfechtbar, ihre
Ausführung leidet noch an Unklarheiten und gewaltsamen Deutungen. Trotzdem
wird der nach seinem System arbeitende Schüler einen unvergleichlich tieferen
Einblick in den Organismus der Klangwelt erhalten, als jeder andere. Riemanns
Ideen und viele seiner praktischen Vorschläge sind denn auch heute bereits Allge-
meingut aller fortschrittlichen Lehrer geworden. Die neueren Harmonielehren lassen
alle seines Geistes mannigfache Spuren erkennen.

Auch das vorliegende Werk Schreyers baut auf Riemann, zeigt aber daneben
doch von allen Werken dieses Gebietes die selbständigsten und eigenartigsten Züge.
Sein am vorteilhaftesten hervorstechender Zug ist der, daß der Verfasser in erster
Linie bemüht ist, den ganzen Harmonieunterricht auf ein künstlerisches Niveau zu
bringen. Nicht nur, daß er den Schüler von Anfang an an kleine, wenn auch be-
scheidene, so doch musikalisch annehmbare musikalische Gebilde formen läßt, er
hält ihn auch in engster Fühlung mit den Werken der Meister durch eine syste-
matische Pflege der Analyse. Eigenes Formen und Zergliedern von bereits meister-
lich geformten Gebilden gehen dauernd nebeneinander her. Eine hervorragende
Stelle nimmt in seinem Lehrgange das Volkslied ein. Zweifellos liegt bei ihm der
günstigste Ansatzpunkt für die Erziehung zum Komponisten.

In der Erkenntnis, daß keine Musik, soll sie eben Musik sein, der rhythmischen
Formung entbehren kann, wendet Schreyer die Aufmerksamkeit des Schülers von
Anfang an auf ihre Grundgesetze hin. So wird seine Harmonielehre zur Elementar-
kompositionslehre, und das muß jedes kommende Lehrbuch dieser Art anstreben.
Die Zeit, wo man tote harmonische Kombinationen herstellen ließ, oder alles
Rhythmische dem Instinkte des Schülers überließ, hat genugsam, wenn auch nur
bescheidene, so doch echte Talente verkümmern lassen.

Ein Kritiker hat mit Recht die Art der Regelstellung in den älteren Harmonie-
lehren mit dem Verfahren der Kochbücher verglichen. Auch hierin hat die neuere
Zeit vieles gebessert. An die Stelle der stereotypen Gebote oder Verbote, daß
man dies so zu machen, und jenes zu unterlassen habe, tritt immer mehr die psycho-
logisch haltbare Art des künstlerischen Ratens, und das Zugeständnis, daß andere
künstlerische Bedingungen andere Wege gestatten, Auch in der Art, wie Schreyer
hier vorgeht, zeigt er sich als ein feinfühliger Lehrer.

-Die systematische Anlage seines Werkes weist, wie alle Harmonielehren von
heute, noch viele Mängel auf. Es wird schon der diatonische Tonkreis nicht plan-
mäßig und in allen Möglichkeiten durchgegangen, noch viel weniger aber erhält der
Schüler im außerdiatonischen (chromatischen) Gebiete eine sichere Führung. Dieser
Mangel beruht auf dem Fehlen eines vollendeten Systems der Harmonielehre. In
pädagogischer Hinsicht scheint mir die stark aphoristische Anlage des Buches nicht
sehr günstig. Eine strengere Methodik hätte es wohl etwas schulmeisterlicher
werden lassen, aber auch seine praktische Verwendbarkeit für weniger begabte
Schüler erhöht.

Das Werk wird jedem Fachmusiker die wertvollsten Anregungen geben, es wird
für den begabten Schüler das empfehlenswerteste Handbuch im Kompositionsunter-
richte sein. Es wird schließlich denjenigen, die vom Standpunkte des Ästhetikers
aus den Stand der heutigen Kompositionslehre prüfen wollen, einen der günstigsten
Eindrücke vermitteln, die unsere Musikwissenschaft auf diesem Gebiete zu geben
vermag.

Berlin. Hermann Wetzel.
 
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