BESPRECHUNGEN. 475
Verständnisses; eine Kraft, die möglicherweise mit derselben Sicherheit und Rich-
tigkeit Urteile fällt, wie das umfassendste Sachverständnis, nur losgelöst von jeder
logischen Denkarbeit und ohne Angabe oder Erforschung ihrer Gründe. Diese
sichere und richtig treffende Urteilskraft besteht, und wir nennen sie den ,guten
Geschmack'.« Die Formulierungen sind meisterhaft und über jeden Einwurf er-
haben. Allein entsprechen sie auch der Absicht des Verfassers? Liegt in der
yefinition des Kunsturteils als des Vermögens, sich über die Gesetze der ästhe-
tischen Eindrücke Rechenschaft zu geben, nicht eine Art Sanktionierung aller, auch
«er nach Alts Überzeugung verkehrten Geschmacksrichtungen, die doch gleichfalls
Psychologisch begründet sein müssen? Räumt dann nicht die ästhetische Kritik ein-
lach der ästhetischen Erklärung das Feld? Kommt es Alt aber nicht gerade auf
. Kritik an? Ist es nicht die offenkundige Tendenz seiner Schrift, vor den Ver-
irrungen und Abwegen der heutigen Kunst zu warnen und die Künstler zurückzu-
cken auf die Bahn, in deren Verfolgung die alten Meister ihren unsterblichen
. _m errungen? Das Kunsturteil ist der geistige Besitz jener Summe von Prin-
zlP'en, aus welchen das ästhetische Gefallen oder Mißfallen an Kunstwerken ent-
springt. Wie will nun Alt mittels dieses Urteils einem Vertreter der »Moderne«
eikommen, wenn dieser an einem Werke, das dem Verfasser mißlungen, ja er-
bärmlich, scheußlich, jammervoll scheint, aufrichtiges Gefallen findet? Und wie
will er gar den »Modernen« zur Einsicht und Umkehr bringen bei dessen eigenen
eorien, nacn welchen es eine normative Ästhetik eben nicht gibt, so daß der
Anhänger dieser Theorien im Grunde überhaupt nicht lobt oder tadelt, nicht An-
spruch auf allgemeingültige Schätzungen erhebt, sondern sich von vornherein be-
scheidet, für seine Person zu sprechen und bloß seinen subjektiven, individuellen
Anektionen Ausdruck zu geben? Also wiederum der Block, der den Ausgang ver-
sperrt und den wegzuwälzen unser Kunstphilosoph sich vergeblich abmüht!
Neben dem Bewußtsein von allen den ästhetischen Genuß begründenden und
bestimmenden Momenten scheint indes Alt gelegentlich noch ein anderes, wenn-
gleich nur durch die konkretere Artung von jenem verschiedenes Bewußtsein, näm-
lich die rationelle historische Kunsterklärung, heimlich der ästhetischen Kritik, die
allein er zu rechtfertigen hätte, unterschieben und als Argument für die legitimen
Ansprüche des Verstandes auf das Herrscheramt im Reiche der Kunstkritik benützen
zu Wollen. Vielleicht begeht er nicht einmal selber diese Verwechslung, aus der
sodann die Täuschung von der Durchführbarkeit seiner Absichten auf diesem Wege
et,tspringt; vielleicht setzt er seine Gedanken nur nicht deutlich genug auseinander:
~~ immerhin besteht jedoch in hohem Grade die Gefahr, daß der Leser die Sache
mißversteht und gerade auf Grund dieses Mißverständnisses einen Beweis für er-
bracht hält, dessen wirklich gelungene Führung hier noch in weiter Ferne liegt.
A" behauptet (S. 104), wie die Geisteswissenschaften überhaupt im Gegensatze zu
den »exakten« Wissenschaften, so habe auch die Ästhetik und diese ganz besonders
das Schicksal, der Meinung Vorschub zu leisten, als beruhe ihre »unendliche Ent-
wicklungsfähigkeit«, »statt auf der Unendlichkeit ihres Stoffes, darauf, daß immer
Wleder neue Auffassungen, neue Theorien geltend gemacht werden könnten, auch
gegenüber endgültig gewonnenen Einsichten«, und er bringt dies mit dem Umstände
ln Verbindung, daß »ihr Stoff selber an eine Welt des Scheines geknüpft ist, wo
die Gedanken leicht beieinander wohnen«, oder daß, wie er mit einem zunächst
etwas unklaren Ausdrucke sagt, »besonders dieser Wissenschaft der Zwang der
Notwendigkeit des wirklichen Geschehens« fehlt. »Nichts«, so fährt er, den Satz
erläuternd und sein Dunkel teilweise aufhellend, fort, »hindert uns z. B. daran, einem
Kunstwerke immer wieder neue und eigenartige Erklärungen zu geben, sollte auch
Verständnisses; eine Kraft, die möglicherweise mit derselben Sicherheit und Rich-
tigkeit Urteile fällt, wie das umfassendste Sachverständnis, nur losgelöst von jeder
logischen Denkarbeit und ohne Angabe oder Erforschung ihrer Gründe. Diese
sichere und richtig treffende Urteilskraft besteht, und wir nennen sie den ,guten
Geschmack'.« Die Formulierungen sind meisterhaft und über jeden Einwurf er-
haben. Allein entsprechen sie auch der Absicht des Verfassers? Liegt in der
yefinition des Kunsturteils als des Vermögens, sich über die Gesetze der ästhe-
tischen Eindrücke Rechenschaft zu geben, nicht eine Art Sanktionierung aller, auch
«er nach Alts Überzeugung verkehrten Geschmacksrichtungen, die doch gleichfalls
Psychologisch begründet sein müssen? Räumt dann nicht die ästhetische Kritik ein-
lach der ästhetischen Erklärung das Feld? Kommt es Alt aber nicht gerade auf
. Kritik an? Ist es nicht die offenkundige Tendenz seiner Schrift, vor den Ver-
irrungen und Abwegen der heutigen Kunst zu warnen und die Künstler zurückzu-
cken auf die Bahn, in deren Verfolgung die alten Meister ihren unsterblichen
. _m errungen? Das Kunsturteil ist der geistige Besitz jener Summe von Prin-
zlP'en, aus welchen das ästhetische Gefallen oder Mißfallen an Kunstwerken ent-
springt. Wie will nun Alt mittels dieses Urteils einem Vertreter der »Moderne«
eikommen, wenn dieser an einem Werke, das dem Verfasser mißlungen, ja er-
bärmlich, scheußlich, jammervoll scheint, aufrichtiges Gefallen findet? Und wie
will er gar den »Modernen« zur Einsicht und Umkehr bringen bei dessen eigenen
eorien, nacn welchen es eine normative Ästhetik eben nicht gibt, so daß der
Anhänger dieser Theorien im Grunde überhaupt nicht lobt oder tadelt, nicht An-
spruch auf allgemeingültige Schätzungen erhebt, sondern sich von vornherein be-
scheidet, für seine Person zu sprechen und bloß seinen subjektiven, individuellen
Anektionen Ausdruck zu geben? Also wiederum der Block, der den Ausgang ver-
sperrt und den wegzuwälzen unser Kunstphilosoph sich vergeblich abmüht!
Neben dem Bewußtsein von allen den ästhetischen Genuß begründenden und
bestimmenden Momenten scheint indes Alt gelegentlich noch ein anderes, wenn-
gleich nur durch die konkretere Artung von jenem verschiedenes Bewußtsein, näm-
lich die rationelle historische Kunsterklärung, heimlich der ästhetischen Kritik, die
allein er zu rechtfertigen hätte, unterschieben und als Argument für die legitimen
Ansprüche des Verstandes auf das Herrscheramt im Reiche der Kunstkritik benützen
zu Wollen. Vielleicht begeht er nicht einmal selber diese Verwechslung, aus der
sodann die Täuschung von der Durchführbarkeit seiner Absichten auf diesem Wege
et,tspringt; vielleicht setzt er seine Gedanken nur nicht deutlich genug auseinander:
~~ immerhin besteht jedoch in hohem Grade die Gefahr, daß der Leser die Sache
mißversteht und gerade auf Grund dieses Mißverständnisses einen Beweis für er-
bracht hält, dessen wirklich gelungene Führung hier noch in weiter Ferne liegt.
A" behauptet (S. 104), wie die Geisteswissenschaften überhaupt im Gegensatze zu
den »exakten« Wissenschaften, so habe auch die Ästhetik und diese ganz besonders
das Schicksal, der Meinung Vorschub zu leisten, als beruhe ihre »unendliche Ent-
wicklungsfähigkeit«, »statt auf der Unendlichkeit ihres Stoffes, darauf, daß immer
Wleder neue Auffassungen, neue Theorien geltend gemacht werden könnten, auch
gegenüber endgültig gewonnenen Einsichten«, und er bringt dies mit dem Umstände
ln Verbindung, daß »ihr Stoff selber an eine Welt des Scheines geknüpft ist, wo
die Gedanken leicht beieinander wohnen«, oder daß, wie er mit einem zunächst
etwas unklaren Ausdrucke sagt, »besonders dieser Wissenschaft der Zwang der
Notwendigkeit des wirklichen Geschehens« fehlt. »Nichts«, so fährt er, den Satz
erläuternd und sein Dunkel teilweise aufhellend, fort, »hindert uns z. B. daran, einem
Kunstwerke immer wieder neue und eigenartige Erklärungen zu geben, sollte auch