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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Adama van Scheltema, Frederik: Beiträge zur Lehre vom Ornament
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0429
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BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 425

ausgespart werden. Die Wand, ursprünglich Trägerin des Musters,
wird also selber zum Muster, während umgekehrt die gemusterte Fläche
als Grund oder als Trägerin wirkt (Abbildung 3). Andere charakte-
ristische Erscheinungen sind: die Bildung von in sich selbst zusammen-
hängenden und damit von der Wand unabhängigen Bändern, deren
selbständiges Wesen oft noch durch punktierte Trennungslinien her-
vorgehoben wird. Dabei kann es zur bewußten Nachbildung fremder
Gegenstände, Bänder mit Troddeln usw. kommen. Endlich, um nur
das Wichtigste zu erwähnen, ist das Auftreten von komplizierten, in
sich zusammenhängenden Ornamentsystemen zu beachten und von
reicher gegliederten, selbständigen Motiven, die nun oft an das Ske-
lett organischer Lebensformen anklingen: Tannenzweige, Farn-
blätter, Fischgräten usw.

Kurz zusammengefaßt, bedeuten diese Merkmale einmal: die Ent-
bindung des geometrischen Ornaments von seiner ersten Pflicht,
den Bau des Trägers — des Gefäßes — zu veranschaulichen, d. h.
das Freiwerden des Ornaments von seinem Träger, des
Musters von seinem Grund. Und zweitens: die Entwicklung der
kristallinischen Form zu Gebilden, die schließlich die ornamentale
Bindung nicht mehr vertragen. Das geradlinige Ornament ist
nicht mehr dienend, nicht mehr begleitend, sondern
herrschend. Es bleibt aber bis zuletzt geradlinig, kristalli-
nisch.

Es ist klar, daß mit der Entfaltung dieser dritten Phase ein Krisis-
zustand geschaffen wurde, der die gleichmäßig fortschreitende Ent-
wicklung, die wir seit der horizontalen Randlinie der Muschelhaufen-
gefäße verfolgen konnten, nicht mehr gestattet. Das Ornament verliert
buchstäblich den Grund unter den Füßen, es macht diesen Grund
selber zum Ornament oder versteckt ihn unter eine geschlossene Hülle
oder auch es breitet sich in willkürlichen Motiven rücksichtslos darüber
aus. Es ist nötig, dies einzusehen, um die völlige Umkehr in der Ent-
wicklung der nordischen Kunst, die mit dem Erscheinen der Metalle
einsetzt, verstehen zu können. Es ist in der Tat möglich, scharf
zwischen der Form der Steinzeit und der der Bronzezeit zu unter-
scheiden. Die Kunst der Bronzezeit setzt sich ein ganz neues Ziel;
sie entsteht nicht mehr durch Evolution, sondern durch das revolutio-
näre Bekennen zu einem völlig neuen Grundsatz.

Wer aber die Kunstform als den sinnfälligen Ausdruck des Geistes
begreift, wird darauf gefaßt sein, daß diese radikale Neuorientierung
ebenso auf anderen Gebieten ihren Ausdruck gefunden hat, z. B. in der
Auffassung vom Verhältnis zwischen Körper und Seele: die Leichen-
bestattung wird allmählich ersetzt durch die Leichenverbren-


 
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