II.
Das Doppelempfinden in der Geistesgeschichte.
Von
Albert Wellek.
1. Zur Typologie und Definition des Doppel-
empfindens.
Von allem Anfang her hat im Brennpunkt der Forschung von der
Doppelempfindung oder Synästhesie (mit dem Schlagwort von Georg
Anschütz zu reden) die „Farbe-Ton-Forschung" gestanden, d. h. —
soweit es sich um rein psychologische Problemstellungen handelt —
die Wissenschaft vom Farbenhören als dem hervorragendsten Spezial-
fall von Synästhesie. Dieser Forschungsrichtung ist es denn auch ge-
lungen, nach jahrzehntelangem Streit, ob die von Tönen ausgelösten
Gesichte reale Empfindungen oder bloß Vorstellungen seien, eine ziem-
lich umfassende Typologie des Farbenhörens und Tönesehens, und da-
mit im Prinzip des Doppelempfindens überhaupt, herauszubilden. Es.
steht heute fest, daß es sich hier um eine ganze Stufenleiter von Inten-
sitäts- oder Realitätsgraden handelt: von halluzinatorischen (oder gleich-
sam „eidetischen") „Doppel empfindungeil" in stetigem Über-
gange herab bis zu bloßem Vorstellen, Fühlen oder gar „Denken" von
Farben und Bildern — oder analog auch von Düften, Geschmacks-,
Haut- und Temperaturempfindungen und so fort.
Halten wir zunächst fest, daß die von einer anderssinnlichen Erschei-
nung induzierte („sekundäre") Sinnesqualität entweder Empfindungs-
oder aber Vorstellungscharakter tragen kann, so sehen wir vier ein-
fachste Typen des „Doppelempfindens" vor uns:
1. können auf einen einzigen (gemeinsamen) peripherischen Reiz
zwei verschiedensinnliche reale Empfindungen oder Wahrnehmungen
folgen (die Trompete z. B. wird rot gehört1);
!) Dies ist das älteste Beispiel des Farbenhörens in der Literatur: so zuerst
in Lock es Essay Concerning Human Understanding (1690) III, 4 (Ed. A. C. Frä-
ser, Oxf. 1894, Up 37 ff.), wo von einem Blinden die Rede ist, der den Trompeten-
klang mit Scharlachrot verglich; dasselbe wurde von dem blindgeborenen Mathema-
tiker Nicholas Saunderson (f 1739) empfunden (nach de Stael: L'Allemagne
III, 10) und auch von dem englischen Augenarzt John Thomas Woolhouse
(f 1734) an einem blinden Deutschen beobachtet (nach L. B. Castel: Nouvelles Ex-
Das Doppelempfinden in der Geistesgeschichte.
Von
Albert Wellek.
1. Zur Typologie und Definition des Doppel-
empfindens.
Von allem Anfang her hat im Brennpunkt der Forschung von der
Doppelempfindung oder Synästhesie (mit dem Schlagwort von Georg
Anschütz zu reden) die „Farbe-Ton-Forschung" gestanden, d. h. —
soweit es sich um rein psychologische Problemstellungen handelt —
die Wissenschaft vom Farbenhören als dem hervorragendsten Spezial-
fall von Synästhesie. Dieser Forschungsrichtung ist es denn auch ge-
lungen, nach jahrzehntelangem Streit, ob die von Tönen ausgelösten
Gesichte reale Empfindungen oder bloß Vorstellungen seien, eine ziem-
lich umfassende Typologie des Farbenhörens und Tönesehens, und da-
mit im Prinzip des Doppelempfindens überhaupt, herauszubilden. Es.
steht heute fest, daß es sich hier um eine ganze Stufenleiter von Inten-
sitäts- oder Realitätsgraden handelt: von halluzinatorischen (oder gleich-
sam „eidetischen") „Doppel empfindungeil" in stetigem Über-
gange herab bis zu bloßem Vorstellen, Fühlen oder gar „Denken" von
Farben und Bildern — oder analog auch von Düften, Geschmacks-,
Haut- und Temperaturempfindungen und so fort.
Halten wir zunächst fest, daß die von einer anderssinnlichen Erschei-
nung induzierte („sekundäre") Sinnesqualität entweder Empfindungs-
oder aber Vorstellungscharakter tragen kann, so sehen wir vier ein-
fachste Typen des „Doppelempfindens" vor uns:
1. können auf einen einzigen (gemeinsamen) peripherischen Reiz
zwei verschiedensinnliche reale Empfindungen oder Wahrnehmungen
folgen (die Trompete z. B. wird rot gehört1);
!) Dies ist das älteste Beispiel des Farbenhörens in der Literatur: so zuerst
in Lock es Essay Concerning Human Understanding (1690) III, 4 (Ed. A. C. Frä-
ser, Oxf. 1894, Up 37 ff.), wo von einem Blinden die Rede ist, der den Trompeten-
klang mit Scharlachrot verglich; dasselbe wurde von dem blindgeborenen Mathema-
tiker Nicholas Saunderson (f 1739) empfunden (nach de Stael: L'Allemagne
III, 10) und auch von dem englischen Augenarzt John Thomas Woolhouse
(f 1734) an einem blinden Deutschen beobachtet (nach L. B. Castel: Nouvelles Ex-