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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Heilbronn, Magda: Kants Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, die Umkehrung desselben, seine Beziehung zur bildenden Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0070
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56

BEMERKUNGEN.

für die Vollzähligkeit seiner Kategorien verbürgte sich Kant, und es wäre wohl
eher eine Möglichkeit einzusehen sie zu vermindern, als zu vermehren.

Der zweite Weg vom Bild zum Begriff ist wesentlich anderer Art. Der Mensch
sei Besitzer des Bildes, aber er habe die Kategorien nicht, ganz gleich, ob er sie
kennt. Die Logik, ein Wächter zwischen vollzogenen Urteilen, findet in dieser
„Leere" noch nichts zu tun. Aber im Besitze des Bildes wird der Mensch tätig; er
handelt aus der Macht eines nie ganz hell erkannten Vermögens, wohl ohne logische
Leitung, aber in notwendiger Folge; er erschafft dem Bild den Begriff.

Für dasjenige, was den Menschen aus dem Vorstellungsbesitze heraus, den
er seiner Rezeptivität verdankt, dazu treibt, sich zum Eigentümer begrifflicher Vor-
stellungen zu machen, ist oft der Name zu finden versucht worden. Man nannte es
eine Kraft, eine Tätigkeit, ein Vermögen und gab ihm, sobald es wirkte, die
Sprachform alles Tuns, das Verbum, als: denken, abstrahieren, erkennen, erzeugen.
Kant benennt sich in diesem tätigen Zustand auf mancherlei Weisen, und das
Vermögen, dem er die Tatsache seines Wirkens schuldig sein will, heißt sehr ver-
schieden: Vermögen oder Kraft der Erkenntnis, Spontaneität, Denkkraft, Funktionen
des Denkens, Verstandeshandlung oder Synthesis oder Verbindung, Einbildungs-
kraft, Verstandesvermögen.

Als Kant nach langen Mühen sich im Besitz seiner Kategorien fühlte und ihrer
Apriorität, das heißt ihrer Notwendigkeit, sicher war, als er ihnen darauf Erschei-
nungen subsumieren, also die Welt logisch ordnen wollte, begann er, den Weg, den
er gerade innerlich bis an die Aufstellung der Kategorien zurückgelegt hatte,
öffentlich rückwärts zu schreiten: vom Begriff zum Bild bewegte er sich in jenem
„Verfahren, einem Begriffe sein Bild zu verschaffen", also im Schematismus des
reinen Verstandes.

Zu den reinen Verstandesbegriffen selber aber, deren Charakter Notwendigkeit
ist, die also apriorisch sind, kann Kant nur durch eine Tätigkeit gelangt sein,
welche wir mit seinen Worten benennen sollten: durch ein „allgemeines Verfahren
der Einbildungskraft", einem Bild seinen Begriff zu verschaffen, welches ist „eine
verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe
wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen
werden", also durch ein Verfahren, welches die Umkehrung seines eigenen „Schema-
tismus" gewesen sein muß.

Anschauungen, Vorstellung des Bildes, sinnliches Vermögen sind notwendige
Voraussetzungen für die Entstehung eines reinen Begriffs. Kant selber hat ihre
Zusammengehörigkeit immer wieder bezeugt. Anschauung und Begriff sind völlig
ungleichartig (wie Sinnlichkeit und Verstand), aber die Kraft der Verwandlung,
jener zweite Schematismus, das Verfahren, die Tätigkeit, das produktive Denken
des Philosophen, nicht das regelrechte des Logikers, erzeugt „Begriffe" aus „Bil-
dern". Das große philosophische System Kants ruht auf der starken Sinnlichkeit
seines eigenen ganzen Wesens, zwischen beiden wirkt sein „Verfahren", dem Bild
seinen Begriff zu verschaffen: das Denkvermögen, das wir versucht sein könnten
zu definieren als die Umkehrung des bei Kant formulierten „Schematismus unsres
Verstandes in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form" als einen
Schematismus unseres sinnlichen Vermögens in Ansehung unsres Verstandes und
seiner bloßen Form.

Es war ein naheliegender Gedanke, die Umkehrbarkeit des im Kantischen
Schematismus enthüllten Verfahrens zu prüfen und diesen anderen Schematismus
in jener Kraft der menschlichen Natur zu finden, mit der sie aus den mächtigen
Erträgnissen ihrer Rezeptivität, aus Anschauungen oder Bildern, Begriffe bildet.
 
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