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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Kuhn, Helmut: Die aristotelische Katharsis als Problem der neueren Aesthetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0082
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BEMERKUNGEN.

lume") der modernen, streng ästhetischen Theorie von der befreienden Wirkung
der Kunst (funzione liberatrice1)) gewertet werden.

Somit erscheint der echt aristotelische Katharsis-Begriff von der Systematik aus
gesehen als „nur" historisch interessant, d. h. in ihm stellt sich eine an sich über-
wundene Stufe des Denkens dar. Aber diese Bindung des philosophischen Begriffes
an seine geschichtliche Umwelt geht noch einen Schritt weiter und gelangt über die
bisherige negative Feststellung hinaus zu einem positiven Sinn.

Man wird behaupten dürfen, daß sich in der Ästhetik die Stellung einer Zeit
oder eines Volkes zu der jeweiligen Gegebenheit der Kunst begrifflich ausdrückt.
Dann kann uns der Poetiker Aristoteles jedenfalls sagen, wie der griechische Geist,
vertreten durch seinen weitesten Intellekt, an einem bestimmten Punkt der Ent-
wicklung seine künstlerische Äußerung betrachtete und vielleicht (wenigstens bis
zu einem gewissen Grade) noch mehr: wie die griechische Kunst auch von uns,
wenn wir ihr eigenes Gesetz auffinden wollen, betrachtet werden 'soll.

Die Wichtigkeit dieser letzten Folgerung wird nicht leicht in Zweifel gezogen
werden können. Bei der Interpretation namentlich des griechischen Dichtwerkes
bestätigt sich unwiderleglich, daß wir zu einem Verständnis e.st gelangen, wenn
wir alle modernen Begriffe des l'art pour l'art, von der Kunst als einem subjektiven
Bekenntnis, und mit ihnen die geläufigsten Vorstellungen vom „Poetischen" hinter
uns gelassen haben. Wir müssen hier lernen, auf die strengen und dem persön-
lichen Belieben des Dichters weitgehend enthobenen Gesetze des yevog acht zu haben,
ferner auf die zu seinem Wesen gehörige politische, pädagogisch-ethische, religiöse
oder allgemein geistige Funktion. Die besten Hinweise aber auf eine derartige Be-
trachtungsweise liefert uns die antike Kunsttheorie selbst.

Wenn dies alles unangreifbar ist, so erweckt die andere, negative Seite der
Angelegenheit Zweifel. Es scheint nämlich, als müßte die moderne Autonomie-
Ästhetik hier abdanken und ihre Behauptungen auf die anders oder gar entgegen-
gesetzt geartete moderne Kunst einschränken. Es gäbe dann in der Ästhetik eine
doppelte oder vielmehr, da neben der Antithese antik—modern noch zahlreiche
andere zu denken sind, eine vielfache Wahrheit.

Gehen wir von dem wohl unbezweifelbaren Satze aus: daß eine Ästhetik sich
auf ästhetischen Erfahrungen aufbauen muß, die im Idealfall ausschließlich durch
die geistesgeschichtliche Lage bedingt und begrenzt sind. Denn in diesen Erfahrun-
gen konstituiert sich ihr Gegenstand. Daraus wird sich ohne Zweifel eine enge
Beziehung zwischen jeweiligem Kunststil und ästhetischem Begriff und ein Beden-
ken gegen die Allgemeingültigkeit des letzteren ergeben. Weiter aber: wenn der
Philologe als produktiver Interpret eine griechische Dichtung versteht, d. i. in einer
der Eigentümlichkeit dieses Gebildes möglichst entsprechenden Weise auffaßt —
was tut er anderes als den ästhetischen Erfahrungsbereich erweitern? Wäre dem
nicht so, dann triebe er eine esoterische Wissenschaft, die zu verstehen der Ästhe-
tiker, der für den modernen Autonomiebegriff einstehen soll, nicht einmal das
Recht hätte.

Offenbar stellt sich hier das Verhältnis zwischen historischer Interpretation
und allgemeiner Reflexion in einem falschen Licht dar. Es ist richtig, daß die
Fortschritte in der Interpretation der griechischen Kunst und Kunstleh.e sich
als Befreiung von den fremdartigen Bestandteilen der modernen Ästhetik darstellen.
Ahe: es wäre schlimm bestellt, wollte man daraus auf ein von Natur feindliches
Verhältnis der beiden Disziplinen schließen. Sehen wir von der historisch bedingten,

i) B. Croce, Estetica, 1922, 5. ed., p. 24.
 
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