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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Matz, Friedrich: Der Begriff des Klassischen in der antiken Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0090
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BEMERKUNGEN.

herangetragene Gesetze, und das heißt, daß eine Entscheidung für die Freiheit
oder für die Notwendigkeit überhaupt noch nicht zur Diskussion steht, da die
Richtung der Entwicklung ihrem Inhalt nach nur einseitig sein kann.

Möglich wird jene Entscheidung erst von dem Zeitpunkt an, da das innere
Leben und der Zusammenhang der von der Kunst geschaffenen Gebilde nicht mehr
von diesen äußeren Gesetzen allein abhängig ist. Bei den delphischen Kuroi des
Polymedes sind die einzelnen Glieder im Verhältnis zur Wirklichkeit so willkürlich
gebildet, ihr Zusammenhang ist, von diesem Gesichtspunkt aus allein betrachtet, ein
so unwahrscheinlicher, daß sie nur durch die strenge kubische Form, die sie um-
schließt, überhaupt Lebensberechtigung haben. Es ist von vornherein ausgeschlos-
sen, sie sich in anderer Lage zueinander zu denken. Eine Spukidee entsetzlichster
Art wäre es, sich diese Figuren in Bewegung zu übersetzen. Ganz im Gegen-
satz dazu wird beim Doryphoros des Polyklet die Phantasie unmittelbar dazu ge-
reizt, diesen schönen Leib sich bewegt zu denken. Und doch sind auch hier jene
abstrakten, anorganischen Formkategorien unverkennbar da. Als „signa quadrata"
haben ja schon die Alten Polyklets Figuren charakterisiert.

Die Frage ist also diese: wie entscheidet sich nun nach der Eröffnung der
europäischen Dialektik die griechische Kunst des V. Jahrhunderts, d. h. die gewohn-
heitsgemäß als klassisch bezeichnete? Denn diesem im Verhältnis zur neueren
Kunstgeschichte so einfach geschichteten und gleichzeitig so lückenhaft überliefer-
ten Stoff gegenüber wird man nicht anders können, als sich zunächst so einfach zu
fassen und das Problem des Generationenrhythmus für speziellere, sozusagen
wieder mikrometrische Untersuchungen zurückzustellen. Wir glauben uns der Er-
scheinung am besten nähern zu können, wenn wir sie nun sozusagen auch von
der anderen Seite her abzugrenzen versuchen.

Lysipps Apoxyomenos ist organische Form in einem wirklich eminenten und
im Vergleich mit dem Doryphoros ganz prägnanten Sinne. Die anorganischen,
mathematischen Formkategorien der absoluten Proportion und des absoluten Rhyth-
mus, in denen wir jetzt die Exponenten der Freiheit erblicken, sind entschieden und
konsequent verborgen. Wohl hat die Figur als Ganzes etwas Rundes, aber von der
elementaren Walzenhaftigkeit archaischer Bilder ist das wesentlich verschieden.
Von einer meßbaren Spannung zwischen dem Stil und der Naturwiedergabe kann
allerdings keine Rede sein, und für Rodenwaldt gilt daher dieses Werk begreif-
licherweise als klassisch, ja noch als klassisch in seinem engeren, historischen
Sinne. Sobald man aber den Begriff der Naturwiedergabe unter den Gesichts-
punkt der organischen Gesetzlichkeit stellt, verliert jene Frage ihren Sinn. Denn
es setzt schon einen hohen Grad künstlerischer und also auch stilistischer Leistung
voraus, das Gesetz, das in einem Naturgebilde wirkt, in seiner Darstellung zum
Ausdruck zu bringen. Die primären Sinneseindrücke sind jedenfalls weit davon
entfernt. So aufgefaßt ist vielmehr die lysippische Kunst entschiedene Hingabe an
das Bedingende im Pinderschen Sinne. Von außen gesehen, namentlich aus der
Perspektive der neueren Kunstgeschichte, mag der Apoxyomenos so klassisch wie
immer erscheinen. Das Gleiche gilt ja aber auch für den ganzen Komplex der
antiken Kunst, wenn man ihn der neueren gegenüberstellt. Sobald man indes ein-
mal dahin gelangt ist, zu erkennen, daß sich innerhalb des durch den gemein-
antiken Charakter und durch die sozusagen primitivere aber auch organischere
Schichtung seiner Struktur bedingten engen Rahmens der antiken Kunst die ganze
durch jene Grundtatsache bedingte Dialektik erschöpfend darstellt, gibt sich Lysipp
als eine relativ keineswegs mehr klassische Erscheinung zu erkennen. Zu ver-
 
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