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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0097
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BESPRECHUNGEN.

83

Ich muß gestehen, daß Ottes Ausführungen meinen Glaubeni) an die medizinisch-
homöopathische Deutung der Stelle, die menschlich und ästhetisch wirklich unbefriedi-
gend ist und wonach Aristoteles an einer wichtigen Stelle die Wand neben dem Nagel
treffen würde, sehr erschüttert hat. Was der griechische Philosoph da umschreiben
will, scheint mir sehr stark in die Nähe dessen zu rücken, was wir heute, wie ange-
deutet, als „künstlerische Ablösung" bezeichnen. Die Stimmungen und Affekte, die
einmal menschlich sind, bleiben ihrem innersten Wesen nach bestehen, sie sollen
nicht weggetilgt werden. Aber es fällt ihre Verwurzelung und ihre Befangenheit
im Tatsächlichen weg: die realen Anlässe fehlen und die peinliche, brutale Vitalität,
mit der sie sonst auftreten und das Gesamtgefüge des Seelenlebens zu zerstören
drohen, wird durch die milde Dosierung ästhetischer Scheingefühle ersetzt. Aber
das gilt schließlich von der Tragödie doch nicht anders als von der Musik; nur
müssen wir uns darüber klar werden, daß die Musik die von Aristoteles beschrie-
benen Wirkungen unmittelbar ausübt, die Tragödie aber, wie die Dichtung und vor
allem die pragmatische Dichtung überhaupt, auf dem Umwege über eine Lebens-
gestaltung (eine (jUfj/qoig also, worauf ja Otte negairovoa bezieht), die natürlich in
diesem Sinne auch durchaus kathartisch sein muß. Damit kommen wir doch wieder der
innersten Meinung Ottes nahe, ohne daß wir „Politik" und „Poetik" auseinander-
zureißen und Katharsis genau in seinem Sinne aufzufassen hätten. Es würde sich
dann um jene poetische „Epitomierung" der Natur handeln, von der Goethe spricht
und die nicht etwa bloß eine inhaltliche Auswahl bedeuten kann. Ich wiederhole, daß
diese kathartische Wirkung aller Dichtung zugehört, daß sie aber bei der Tra-
gödie durch Furcht und Mitleid bewirkt wird. Sie bedeutet dann eine Umwandlung
empirischer in menschlich-exemplarische Gefühle auf dem Umweg über die ästhe-
tischen Scheingefühle, wie das Kunstwerk sie erregt. Meines Erachtens faßt O. den
ästhetischen Begriff der „Reinigung", auf den er hinstrebt, viel zu eng, wenn er
darin nur die Erkenntnis von der inneren Notwendigkeit der Mitleid und Furcht
erregenden Ereignisse sieht. Gerade davon steht doch auch bei Aristoteles nicht ein
Wort, wenn wir den Begriff der avaraatg nicht rationalistisch pressen wollen.
(Lessing freilich würde damit recht zufrieden sein.)

O. sucht seine Erklärung der Katharsis endlich zu stützen, indem er das Wort
(uagov, das sich bei Aristoteles nur an den drei bekannten Stellen der „Poetik"
(1452 b 38, 1453 b 37 und 1454 a 37) findet, damit in eine enge gedankliche Ver-
bindung bringt.

Er stellt den Begriff ßiagöv dem Begriff xadutgsw gegenüber, was an sich
natürlich möglich ist. Es bleibt nur fraglich, ob Aristoteles an den drei erwähnten
Stellen wirklich diesen Gegenstand im Auge hatte. Dazu müßte dann /uoqöv einen
ebenso allgemeinen Sinn haben, wie er ihn der y.d-dagoig zuschreibt; er selber aber
legt sich doch (S. 75 ff.) auf die sehr spezielle Bedeutung „abscheulich" fest. In
den Sinn seiner Definition zwingt er nun (ältere Arbeit, S. 54) die „unserm sitt-
lichen Empfinden widersprechenden, also nicht tragischen Handlungen" in der
Weise hinein, daß er sagt: ohne i/.sog und (f.oßog sind die ngayfiata ßiagd, dagegen
wenn sie eAeocund qoßog erregen, sind sie nicht mehr ßiagd; der Dichter hat sie
also durch Einführung von t/.eog und qoßog zu reinigen. Es ist aber z. B. an der
ersten der drei Stellen (14526) gar keine Rede davon, daß der Dichter solche
Fälle, wo gute Menschen aus Glück ins Unglück geraten, nach Belieben mit Furcht

*) Ich verweise auf meine frühere, auch die ältere Erörterung zusammenfassende
und die ganze Frage in ihre geschichtlichen Zusammenhänge rückende Darstellung
der „Theorie des Tragischen im griechischen Altertum"; Zt. f. Ästh. 1912, ab-
gedruckt in meiner Sammlung „Gehalt und Form" (Dortmund 1915), S. 89 ff.
 
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