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VICTOR VON KLEINENBERQ.
wird wohl für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben, was diese 4 Figuren
hier zu bedeuten haben."
Nach alle dem — ist es nicht Aufgabe, ja Pflicht, das bisher Ver-
säumte nachzuholen und die viel umstrittenen Figuren einer vorurteils-
losen, durch lebendige Einfühlung gestärkten, formal-kritischen, rein
phänomenologischen Betrachtung zu unterwerfen, um das geheimnisvolle
Innenleben jener Figuren überzeugend zu enthüllen?
Der Versuch sei gewagt. Ob dieser neue Weg in die Irre führt, oder
schließlich zu dem Resultat, daß die künstlerische Weisheit Michel-
angelos durch tiefstes Erkennen seiner ungeheuren Fähigkeit, im Stein
tiefstes Leben zu enthüllen, bewundernd erkannt werden kann, ja, daß sich
sogar das noch vorhandene Gesamtwerk der Mediceergräber dadurch in
das Licht einer großen bedeutsamen Idee gestellt sieht — wird das Fol-
gende lehren.
Die sogenannte „Nach t".
Die riesige Gestalt einer reifen, etwa 40jährigen Frau ruht auf einer
selbständigen, frei durch Decken als Lager behandelten, zu Dreivierteln
sich der Rundung des Sarkophagdeckels anschmiegenden, zuletzt über
sie hinausreichenden Unterlage. Diese hat im ganzen zur Vertikalen eine
Neigung von etwa 45°. Der in Ellbogenbeuge stark nach hinten ge-
stützte linke Arm sichert dem Thorax und demgemäß Schultern und
Kopf eine fast normal aufrechte Stellung. Der statische Schwerpunkt
der Lage liegt so ausschließlich auf dem Steißbein, daß dadurch eine
mühelose seitliche und hochgehende Streckung und Beugung der Beine
gewährleistet ist, noch erleichtert durch den Schrägabfall des Lagers.
Das linke Bein ist stark, wenn auch nicht übermäßig in der Kniebeuge
hochgezogen, so daß Ferse, Knie und Hüftgelenk ein gleichschenkliges
Dreieck bilden. Die auf dem Pinienapfel aufgestützte Ferse gibt dieser
Stellung die Möglichkeit einer gewissen Dauer. Dann aber ist der linke
Oberschenkel aus seiner Normallage nach hinten gebeugt. Durch die
hierzu verursachte Kontraktion der Adduktoren auf der Innenseite ent-
stand aber eine Spannung der Muskulatur auf der Außenseite, die M. A.
offenbar bewußt stark hervorgehoben hat. Natürlich hat diese Spannung
die stärkste Tendenz zum Ausgleich und zur Rückkehr in die Normal-
lage.
Zu dieser ungewöhnlichen (und sicher keinem praktischen Zweck die-
nenden) Energieentfaltung des linken Beines macht nun der Oberkörper
die genaue Gegenbewegung: er dreht sich aus der Normallage seitlich
soweit um seine Axe, daß die Brustfläche beinahe schon in der Ebene des
Beschauers liegt. Die linke Schulter geht zurück, die rechte mit Ober-
arm und Ellenbogen soweit nach vorn, daß nun eine gewaltige Spannung
VICTOR VON KLEINENBERQ.
wird wohl für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben, was diese 4 Figuren
hier zu bedeuten haben."
Nach alle dem — ist es nicht Aufgabe, ja Pflicht, das bisher Ver-
säumte nachzuholen und die viel umstrittenen Figuren einer vorurteils-
losen, durch lebendige Einfühlung gestärkten, formal-kritischen, rein
phänomenologischen Betrachtung zu unterwerfen, um das geheimnisvolle
Innenleben jener Figuren überzeugend zu enthüllen?
Der Versuch sei gewagt. Ob dieser neue Weg in die Irre führt, oder
schließlich zu dem Resultat, daß die künstlerische Weisheit Michel-
angelos durch tiefstes Erkennen seiner ungeheuren Fähigkeit, im Stein
tiefstes Leben zu enthüllen, bewundernd erkannt werden kann, ja, daß sich
sogar das noch vorhandene Gesamtwerk der Mediceergräber dadurch in
das Licht einer großen bedeutsamen Idee gestellt sieht — wird das Fol-
gende lehren.
Die sogenannte „Nach t".
Die riesige Gestalt einer reifen, etwa 40jährigen Frau ruht auf einer
selbständigen, frei durch Decken als Lager behandelten, zu Dreivierteln
sich der Rundung des Sarkophagdeckels anschmiegenden, zuletzt über
sie hinausreichenden Unterlage. Diese hat im ganzen zur Vertikalen eine
Neigung von etwa 45°. Der in Ellbogenbeuge stark nach hinten ge-
stützte linke Arm sichert dem Thorax und demgemäß Schultern und
Kopf eine fast normal aufrechte Stellung. Der statische Schwerpunkt
der Lage liegt so ausschließlich auf dem Steißbein, daß dadurch eine
mühelose seitliche und hochgehende Streckung und Beugung der Beine
gewährleistet ist, noch erleichtert durch den Schrägabfall des Lagers.
Das linke Bein ist stark, wenn auch nicht übermäßig in der Kniebeuge
hochgezogen, so daß Ferse, Knie und Hüftgelenk ein gleichschenkliges
Dreieck bilden. Die auf dem Pinienapfel aufgestützte Ferse gibt dieser
Stellung die Möglichkeit einer gewissen Dauer. Dann aber ist der linke
Oberschenkel aus seiner Normallage nach hinten gebeugt. Durch die
hierzu verursachte Kontraktion der Adduktoren auf der Innenseite ent-
stand aber eine Spannung der Muskulatur auf der Außenseite, die M. A.
offenbar bewußt stark hervorgehoben hat. Natürlich hat diese Spannung
die stärkste Tendenz zum Ausgleich und zur Rückkehr in die Normal-
lage.
Zu dieser ungewöhnlichen (und sicher keinem praktischen Zweck die-
nenden) Energieentfaltung des linken Beines macht nun der Oberkörper
die genaue Gegenbewegung: er dreht sich aus der Normallage seitlich
soweit um seine Axe, daß die Brustfläche beinahe schon in der Ebene des
Beschauers liegt. Die linke Schulter geht zurück, die rechte mit Ober-
arm und Ellenbogen soweit nach vorn, daß nun eine gewaltige Spannung