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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Kleinenberg, Victor von: Zum Geheimnis der Mediceergräber
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0140
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VICTOR VON KLEINENBERG.

mit den kosmischen Kräften von Tag und Nacht
und ihren Zwischenstufen dar, und die endliche
Überwindung jener schmerzhaften Seelenspan-
nungen durch die Natur.

Begründung im Einzelnen. Die Mitternacht.

Man stelle sich vor: eine Frau hat eines Tages den Tod ihres liebsten
Kindes, vielleicht sogar durch nicht erwarteten plötzlichen Unfall, er-
leben müssen. Die ersten Hantierungen, die Verwirrung des Augen-
blicks haben sie noch nicht den ganzen Umfang ihres Unglücks erfassen
lassen. Da kommt die Nacht mit ihrem Dunkel und ihrer Stille. Die Ge-
wohnheit des Schlafenwollens bringt sie auf ihr Lager — aber nun kommt
das Bewußtsein ihres Verlustes mit furchtbarer Stärke über sie, und von
Schlaf kann nicht die Rede sein. Es packt sie der Paroxysmus eines rasen-
den Schmerzes, ihr ganzes Wesen ist im wilden Aufruhr, der furchtbare
Widerstreit ihrer Empfindungen und Vorstellungen, die sich ineinander
verkrampfen, die sie sich, Gott und die Welt verfluchen läßt, äußert sich
in entsprechendem Hin- und Herwerfen und Verkrampfungen der Glie-
der, abwechselnd mit kürzeren Momenten haltloser Lethargie. Alles in
ihr kämpft gegen den Schlaf an, mit zäher Verbissenheit soll das Be-
wußtsein des Verlustes wach erhalten werden. Aber mit je größerer
Plötzlichkeit und Heftigkeit sich ein sanguinisches Temperament solchen
furchtbaren Spannungen der Seele hingegeben hat, desto eher muß es
dem unerbittlichen Gesetz der Erschlaffung und Lösung anheimfallen.
Die kosmische Lösungstendenz der Nacht schreitet ihrem Höhepunkt
entgegen, das Bewußtsein der Leiden beginnt zu weichen, die schreck-
haften Wahngebilde von Tod und Gespenstern verschwinden, und schon
zeigt das Antlitz ohne Schmerzausdruck eine weiche Entspannung. Der
Kopf beginnt zu sinken und sucht an der Hand eine Stütze, und so wird
für die letzte Krampfstellung noch eine kurze Dauer ermöglicht. Aber
freilich — der letzte Halt ist äußerst zart. Schwindet mit fortschreiten-
der Müdigkeit der letzte Rest des Bewußtseins, schließen sich die Augen
und senkt sich das Haupt noch um ein weniges — dann hat die „glieder-
lösende" Kraft der Nacht gesiegt: alle körperlichen wie seelischen Über-
spannungen sind gelöst, die Glieder gleiten in die normale Ruhestellung
und ein bewußtloser Schlaf beruhigt die wild zerrissene Seele.

Die Größe einer Energie mißt sich an der Stärke ihres Widerstandes.
Konnte die Kraft des Schlafes in der Nacht als einer grundlegenden kos-
mischen Lebensfunktion deutlicher und schöner gezeigt werden, als wo
sie wie hier mit einer im Grunde lebenswidrigen stärksten seelischen
Energieentfaltung zusammentraf?
 
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