ZUR TYPENLEHRE DES EPIKERS.
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lieh daraufhin die deutsche Epik des 20. Jahrhunderts, so zeigt sich so-
fort: ihr Schwerpunkt liegt weniger im Metaphysischen als im Soziolo-
gischen. Denn die Götter nähe wie das Naturgefühl sind heute — trotz
religiöser Umkehr und Naturliebe der Jugend — für den Epiker zweit-
rangig gegenüber der Beziehung von Mensch zu Mensch, von Dichter
und Mitmensch. „Wie sieht der Dichter die Welt der homines und
homuneuli? Wie weit fühlt er sich mit ihr verbunden?" Das sind die
wesentlichen Fragen für eine produktive Betrachtung der heutigen Epik.
Nicht die Art der Menschendarstellung — ob realistisch, naturalistisch
oder symbolistisch, sondern die der Einstellung zu den Menschen, seine
Menschensicht hat im Vordergrund der Betrachtung zu stehen. Dieses
Problem aber ist kein eigentlich ästhetisches, betrifft nicht die künst-
lerische Auffassung des Schönen, sondern stellt eine eminent charak-
terologische Angelegenheit dar. Die Reaktion der Künstler auf die
„Welt" der Menschen, der Gesellschaft ist so verschieden wie ihre Ge-
samtcharaktere ungleichartig sind. Bald gehört der Poet und Romancier
zu den kühlen Beobachtern, den unstörbaren Registratoren und fein-
nervigen Abtastern; in einen neuen Umkreis von Menschen gestellt, er-
wittern sie, mit der Haltung der Distanz, sogleich den Dunstkreis dieses
Lebensbezirks, erfühlen sie seine spezifische Atmosphäre und wandeln
sie im Werke ab. Bald zählt er den sensiblen Freunden des Menschen
zu, die in jedem menschlichen Dasein, sei es gut oder böse, schöpferisch
oder armselig, eine Hieroglyphe der Menschheit erblicken, welche nur
mit ganzer Hingabe entziffert werden kann. Dann sieht er in dem Um-
kreis neuer Menschen nur die Mitwesen, an deren Abgründen er leidet,
deren Schönheit er liebt. Auch die Epiker, ja gerade sie, kann man in
einfühlende und teilnehmende Naturen scheiden. Sind
jene die gelassenen Erschließer der Klassen- und Gesellschaftsschichten,
so diese die cum ira et studio beteiligten Entdecker der menschlichen Ge-
sichter, denen zu sagen gegeben ist, was die Brüder leiden.
Unter den Lebenden scheinen uns Thomas Mann und Jakob
Wassermann diesen Dualismus künstlerischer Typen am eindrucks-
vollsten zu verkörpern.
Überflüssig zu sagen, daß Thomas Mann auch die Tendenz zur
„Sympathie", Wassermann auch die zur „Atmosphäre" in sich birgt.
Denn ohne die Verschmelzung beider Elemente kann heute überhaupt
keine meisterhafte Saga entstehen. Aber originär, vorherrschend sind
diese Tendenzen bei ihnen nicht. Denn ihre Hauptwerke lassen deutlich
den ganz verschiedenen Primat ihrer Wesensstrukturen erkennen.
Die „Buddenbrooks" sind das Muster eines Atmosphärenromans,
wie er dem Frankreich Zolas selbstverständlich, den individualistischen
Deutschen hingegen ein seltsames Novum war. Noch niemals hatte man
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lieh daraufhin die deutsche Epik des 20. Jahrhunderts, so zeigt sich so-
fort: ihr Schwerpunkt liegt weniger im Metaphysischen als im Soziolo-
gischen. Denn die Götter nähe wie das Naturgefühl sind heute — trotz
religiöser Umkehr und Naturliebe der Jugend — für den Epiker zweit-
rangig gegenüber der Beziehung von Mensch zu Mensch, von Dichter
und Mitmensch. „Wie sieht der Dichter die Welt der homines und
homuneuli? Wie weit fühlt er sich mit ihr verbunden?" Das sind die
wesentlichen Fragen für eine produktive Betrachtung der heutigen Epik.
Nicht die Art der Menschendarstellung — ob realistisch, naturalistisch
oder symbolistisch, sondern die der Einstellung zu den Menschen, seine
Menschensicht hat im Vordergrund der Betrachtung zu stehen. Dieses
Problem aber ist kein eigentlich ästhetisches, betrifft nicht die künst-
lerische Auffassung des Schönen, sondern stellt eine eminent charak-
terologische Angelegenheit dar. Die Reaktion der Künstler auf die
„Welt" der Menschen, der Gesellschaft ist so verschieden wie ihre Ge-
samtcharaktere ungleichartig sind. Bald gehört der Poet und Romancier
zu den kühlen Beobachtern, den unstörbaren Registratoren und fein-
nervigen Abtastern; in einen neuen Umkreis von Menschen gestellt, er-
wittern sie, mit der Haltung der Distanz, sogleich den Dunstkreis dieses
Lebensbezirks, erfühlen sie seine spezifische Atmosphäre und wandeln
sie im Werke ab. Bald zählt er den sensiblen Freunden des Menschen
zu, die in jedem menschlichen Dasein, sei es gut oder böse, schöpferisch
oder armselig, eine Hieroglyphe der Menschheit erblicken, welche nur
mit ganzer Hingabe entziffert werden kann. Dann sieht er in dem Um-
kreis neuer Menschen nur die Mitwesen, an deren Abgründen er leidet,
deren Schönheit er liebt. Auch die Epiker, ja gerade sie, kann man in
einfühlende und teilnehmende Naturen scheiden. Sind
jene die gelassenen Erschließer der Klassen- und Gesellschaftsschichten,
so diese die cum ira et studio beteiligten Entdecker der menschlichen Ge-
sichter, denen zu sagen gegeben ist, was die Brüder leiden.
Unter den Lebenden scheinen uns Thomas Mann und Jakob
Wassermann diesen Dualismus künstlerischer Typen am eindrucks-
vollsten zu verkörpern.
Überflüssig zu sagen, daß Thomas Mann auch die Tendenz zur
„Sympathie", Wassermann auch die zur „Atmosphäre" in sich birgt.
Denn ohne die Verschmelzung beider Elemente kann heute überhaupt
keine meisterhafte Saga entstehen. Aber originär, vorherrschend sind
diese Tendenzen bei ihnen nicht. Denn ihre Hauptwerke lassen deutlich
den ganz verschiedenen Primat ihrer Wesensstrukturen erkennen.
Die „Buddenbrooks" sind das Muster eines Atmosphärenromans,
wie er dem Frankreich Zolas selbstverständlich, den individualistischen
Deutschen hingegen ein seltsames Novum war. Noch niemals hatte man