168
PETER HIRSCHFELD.
wichtigste geistige Realität, ein bei Bergson nur angedeuteter Gedanke,
der erst von Proust in Analogie zur romantischen Anschauung1) in
den Vordergrund gerückt wird.
Prousts Betrachtungen nehmen die gleiche Richtung wie Bergsons
Lehren, die ihm doch nicht immer gegenwärtig waren und als Führung
dienen konnten, wie eine Briefstelle2) über die Unterscheidung des spon-
tan-unfreiwilligen, wahren Gedächtnisses vom willensmäßigen, intellek-
tuellen Gedächtnis beweist — eine Unterscheidung, die Bergson nicht
mache. Sie findet sich aber bei Bergson in prägnanter Form3). Das
„spontane Gedächtnis" ist auch für ihn das allein vollständige, das unab-
hängig von unserem Willen auftauchende Traumbilder produziert, wäh-
rend das gelernte, willensmäßige Gedächtnis unvollständig bleibt. Proust
erkennt diese Unvollständigkert an den vergeblichen Anstrengungen,
sich vergangene Eindrücke zurückzurufen, die nur ungewollt aus dem
Unbewußten emportauchen4). Nach Bergson ist die Reproduktion der
aufeinanderfolgenden Bilder unseres vergangenen Lebens umso lücken-
loser, je mehr wir uns von aller „Tätigkeit" abwenden5).
Was Bergson über die Aufgaben des Romans schreibt0), ist eine
Interpretation von Prousts Kunst: jede Analyse unserer Gefühle kann
wegen der Notwendigkeit, die in Wirklichkeit sich durchdringenden Be-
wußtseinszustände in eine dem Worte zugängliche, zeitliche Folge zu
projizieren, nur einen Schatten der Gefühle vermitteln. „Wenn nun ein
kühner Romandichter das geschickt gewobene Gewebe unseres konven-
tionellen Ich zerreißt und uns unter jener scheinbaren Logik eine fun-
damentale Absurdität, unter jener Aneinanderreihung einfacher Zu-
stände eine unendliche Durchdringung von Tausenden von verschiede-
nen Eindrücken sehen läßt, die im Augenblick, wo sie genannt werden,
bereits zu sein aufgehört haben, dann spenden wir ihm Lob dafür, daß
er uns besser kennt als wir". — Freilich gibt auch der Roman wie die
wissenschaftliche Analyse „nur einen Schatten", aber „er lüftet für einen
Augenblick den Schleier, den wir zwischen unserem Bewußtsein und uns
gezogen hatten." Zu diesem Satze, der als Ausgangspunkt der Betrach-
tungsreihe dienen kann, gibt Proust Ergänzungen7). Freuden und
Schmerzen wirklicher Menschen können wir nur mitempfinden, indem
wir uns ein Bild dieser Gemütsbewegungen machen; der erste Roman-
1) Vgl. unten S. 182, Anm. 3.
2) Pierre-Quint, a.a.O. S. 272; Brief 1913. — Vgl. Du cote de chez Swann I,
S. 45/46 und Cremieux, a. a. O. S. 38/39.
s) Bergson, Materie und Gedächtnis (1896), deutsch Jena 1919, S. 72/75.
4) Le temps retrouve, II, S. 12, 9.
s) Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 167.
6) Zeit und Freiheit, S. 104.
7) Du cöte de chez Swann, I, S. 81, 82, Temps retrouve, II, S. 24, 256.
PETER HIRSCHFELD.
wichtigste geistige Realität, ein bei Bergson nur angedeuteter Gedanke,
der erst von Proust in Analogie zur romantischen Anschauung1) in
den Vordergrund gerückt wird.
Prousts Betrachtungen nehmen die gleiche Richtung wie Bergsons
Lehren, die ihm doch nicht immer gegenwärtig waren und als Führung
dienen konnten, wie eine Briefstelle2) über die Unterscheidung des spon-
tan-unfreiwilligen, wahren Gedächtnisses vom willensmäßigen, intellek-
tuellen Gedächtnis beweist — eine Unterscheidung, die Bergson nicht
mache. Sie findet sich aber bei Bergson in prägnanter Form3). Das
„spontane Gedächtnis" ist auch für ihn das allein vollständige, das unab-
hängig von unserem Willen auftauchende Traumbilder produziert, wäh-
rend das gelernte, willensmäßige Gedächtnis unvollständig bleibt. Proust
erkennt diese Unvollständigkert an den vergeblichen Anstrengungen,
sich vergangene Eindrücke zurückzurufen, die nur ungewollt aus dem
Unbewußten emportauchen4). Nach Bergson ist die Reproduktion der
aufeinanderfolgenden Bilder unseres vergangenen Lebens umso lücken-
loser, je mehr wir uns von aller „Tätigkeit" abwenden5).
Was Bergson über die Aufgaben des Romans schreibt0), ist eine
Interpretation von Prousts Kunst: jede Analyse unserer Gefühle kann
wegen der Notwendigkeit, die in Wirklichkeit sich durchdringenden Be-
wußtseinszustände in eine dem Worte zugängliche, zeitliche Folge zu
projizieren, nur einen Schatten der Gefühle vermitteln. „Wenn nun ein
kühner Romandichter das geschickt gewobene Gewebe unseres konven-
tionellen Ich zerreißt und uns unter jener scheinbaren Logik eine fun-
damentale Absurdität, unter jener Aneinanderreihung einfacher Zu-
stände eine unendliche Durchdringung von Tausenden von verschiede-
nen Eindrücken sehen läßt, die im Augenblick, wo sie genannt werden,
bereits zu sein aufgehört haben, dann spenden wir ihm Lob dafür, daß
er uns besser kennt als wir". — Freilich gibt auch der Roman wie die
wissenschaftliche Analyse „nur einen Schatten", aber „er lüftet für einen
Augenblick den Schleier, den wir zwischen unserem Bewußtsein und uns
gezogen hatten." Zu diesem Satze, der als Ausgangspunkt der Betrach-
tungsreihe dienen kann, gibt Proust Ergänzungen7). Freuden und
Schmerzen wirklicher Menschen können wir nur mitempfinden, indem
wir uns ein Bild dieser Gemütsbewegungen machen; der erste Roman-
1) Vgl. unten S. 182, Anm. 3.
2) Pierre-Quint, a.a.O. S. 272; Brief 1913. — Vgl. Du cote de chez Swann I,
S. 45/46 und Cremieux, a. a. O. S. 38/39.
s) Bergson, Materie und Gedächtnis (1896), deutsch Jena 1919, S. 72/75.
4) Le temps retrouve, II, S. 12, 9.
s) Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 167.
6) Zeit und Freiheit, S. 104.
7) Du cöte de chez Swann, I, S. 81, 82, Temps retrouve, II, S. 24, 256.