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PETER HIRSCHFELD.
solchen Tatsache voll und ganz enthalten, vorausgesetzt, daß man sie
auszuwählen versteht." Proust besaß diese Kraft der Mannigfaltigkeit
in ebenso hohem Grade wie den psychologischen Instinkt für charakteri-
sierende Auswahl. Die Lebensnähe seiner Porträts beruht auf der Fülle
zusammengetragener Einzelzüge und auf der persönlichen Nuance, die
jedem Einzelzug gegeben ist. Man wird das Handeln, Fühlen, Sprechen,
Gebaren und Auftreten dieser Gestalten als eine Bereicherung des eige-
nen psychologischen Wissens empfinden, denn Prousts Roman vermag
uns sonst verschlossen bleibende Tiefen auch des eigenen Herzens zu öff-
nen und die Aktivität des persönlichen Geisteslebens zu steigern1): „mes
lecteurs — ne seraient pas, selon moi, mes lecteurs, mais les propres lec-
teurs d'eux-memes2)." Sein Werk soll — wie es Proust selbst im Gegen-
satz zu der romantischen Betrachtung des Romans als Aufnahme frem-
der Gedanken und als Vorbild des Lebens3) ausspricht — nicht das
wirkliche Dasein ersetzen, sondern ihm neue Aspekte geben und eine
Schulung des Geistes sein. „La puissance de notre sensibilite et de notre
intelligence, nous ne pouvons la developper qu'en nous-memes, dans les
profondeurs de notre vie spirituelle. Mais c'est dans ce contact avec les
autres esprits qu'est la lecture, que se fait l'education des „facons" de
l'esprit4)."
1) Pastiches, a.a.O. S. 253/254.
2) Temps retrouve, II, S. 240, 70.
3) Sigmund v. Lempicki, „Bücherwelt und wirkliche Welt, ein Beitrag zur
Wesenserfassung der Romantik". Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen-
schaft und Qeistesgeschichte, 3. Jahrgang 1925, S. 368, 373.
4) Pastiches, S. 265.
PETER HIRSCHFELD.
solchen Tatsache voll und ganz enthalten, vorausgesetzt, daß man sie
auszuwählen versteht." Proust besaß diese Kraft der Mannigfaltigkeit
in ebenso hohem Grade wie den psychologischen Instinkt für charakteri-
sierende Auswahl. Die Lebensnähe seiner Porträts beruht auf der Fülle
zusammengetragener Einzelzüge und auf der persönlichen Nuance, die
jedem Einzelzug gegeben ist. Man wird das Handeln, Fühlen, Sprechen,
Gebaren und Auftreten dieser Gestalten als eine Bereicherung des eige-
nen psychologischen Wissens empfinden, denn Prousts Roman vermag
uns sonst verschlossen bleibende Tiefen auch des eigenen Herzens zu öff-
nen und die Aktivität des persönlichen Geisteslebens zu steigern1): „mes
lecteurs — ne seraient pas, selon moi, mes lecteurs, mais les propres lec-
teurs d'eux-memes2)." Sein Werk soll — wie es Proust selbst im Gegen-
satz zu der romantischen Betrachtung des Romans als Aufnahme frem-
der Gedanken und als Vorbild des Lebens3) ausspricht — nicht das
wirkliche Dasein ersetzen, sondern ihm neue Aspekte geben und eine
Schulung des Geistes sein. „La puissance de notre sensibilite et de notre
intelligence, nous ne pouvons la developper qu'en nous-memes, dans les
profondeurs de notre vie spirituelle. Mais c'est dans ce contact avec les
autres esprits qu'est la lecture, que se fait l'education des „facons" de
l'esprit4)."
1) Pastiches, a.a.O. S. 253/254.
2) Temps retrouve, II, S. 240, 70.
3) Sigmund v. Lempicki, „Bücherwelt und wirkliche Welt, ein Beitrag zur
Wesenserfassung der Romantik". Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen-
schaft und Qeistesgeschichte, 3. Jahrgang 1925, S. 368, 373.
4) Pastiches, S. 265.