BINDUNG U. FREIHEIT IN DEHMELS THEORIE D. LYR. SPRACHE. 233
Zeitwörtern. Endlich ging mir die bedeutungslos nachklappende Los-
reißung des ,sich' von ,windet' gegen den Strich." Dehmel verbessert
also:
und jeden Schaft umringelt schillernd eine Schlange,
die nach den Früchten züngelt... (F 17. 3. 96.)
Im Gegensatz zu dieser „Garstigkeit" etwa folgende „poetische"
Stelle: „Der vorgestellte Genitiv ,mächtiger Farren Wedelwälder' fällt
(nach meinem Gefühl) hier aus dem Stil. Derartige nur in der ,poe-
tischen' Sprache üblichen Inversionen haben immer einen gewissen pathe-
tischen Beigeschmack, sind also m. E. nur in besonders gehobenem' Zu-
sammenhang verwendbar, nicht aber hier, wo Sie eine einfache Schil-
derung in fast novellistischer Redeweise geben. Wollen Sie nicht schrei-
ben: ,mächtige Farrenwedelwälder'? Durch dies wuchtige Kompositum
würde zugleich — scheint mir — die breit sich hindehnende Masse der
wuchernden Farren gut gemalt." (F 4. 2. 92; vgl. ferner die Beispiele
St 421 und 422.)
Neben solchen syntaktischen Lizenzen sind es einige kleinere Ver-
stöße gegen die Wortbildung, die Dehmels Unwillen erregen: „Das ble-
cherne ,Tichter-e' in den ,schwach' flektierten Verbalformen", das schon
Liliencron verwarf1), lehnt er als „vorgefaßte altfränkische Geste, die
behaglich Stimmung machen soll", ab. (1. 7. 10.) Nur einmal, soviel
ich sehe, findet ein solches -e ausdrücklich Gnade vor seinen Ohren: In
des alten Claudius Versen „Der Wald steht schwarz und schweiget. . ."
möchte er „um keinen Preis das Dichter-e missen!" (1.2. 92.) Es ist
wohl zu bedenken, daß dies Dichter-e noch zur Zeit der Klassiker auch
in der Prosa durchaus üblich war. Heut allerdings muß es jedem Dilet-
tanten als metrische Flicksilbe herhalten.
Getadelt hat Dehmel ferner „die schauderhaften Abhackungen der
wichtigsten deutschen Endungen, z. B. wenn uns einer sagen will, daß
er ein Mädchen liebte, und anstatt dessen drucken läßt: ,Ein Jüngling
lieW ein Mädchen'." Auch diese Apokope geschieht zugunsten der
poetischen Form auf kosten der Sprachreinheit und -klarheit; meist dient
sie dazu, das Metrum zu erfüllen, seltener, den Hiatus zu vermeiden.
Wo sie sprachüblich ist, und der Sinn eindeutig bleibt, da benutzt sie
auch Dehmel; z. B. „Lied an meinen Sohn": „erwacht' ich"; Imperative
schreibt er, durchaus sinnvoll, einfach ohne Apostroph; ebda.: „horch",
„hör". Kühn ist die mehrfach auftretende Form „wolln", die sonst nur
in der Alltagsrede zu hören ist.
Nicht besonders beachtet zu haben scheinen Dehmel und Liliencron
eine andere Art Apostrophierung: die scheußliche Verschleifung der
i) Sämtl. Wke. V, 167; VIII, 64.
Zeitwörtern. Endlich ging mir die bedeutungslos nachklappende Los-
reißung des ,sich' von ,windet' gegen den Strich." Dehmel verbessert
also:
und jeden Schaft umringelt schillernd eine Schlange,
die nach den Früchten züngelt... (F 17. 3. 96.)
Im Gegensatz zu dieser „Garstigkeit" etwa folgende „poetische"
Stelle: „Der vorgestellte Genitiv ,mächtiger Farren Wedelwälder' fällt
(nach meinem Gefühl) hier aus dem Stil. Derartige nur in der ,poe-
tischen' Sprache üblichen Inversionen haben immer einen gewissen pathe-
tischen Beigeschmack, sind also m. E. nur in besonders gehobenem' Zu-
sammenhang verwendbar, nicht aber hier, wo Sie eine einfache Schil-
derung in fast novellistischer Redeweise geben. Wollen Sie nicht schrei-
ben: ,mächtige Farrenwedelwälder'? Durch dies wuchtige Kompositum
würde zugleich — scheint mir — die breit sich hindehnende Masse der
wuchernden Farren gut gemalt." (F 4. 2. 92; vgl. ferner die Beispiele
St 421 und 422.)
Neben solchen syntaktischen Lizenzen sind es einige kleinere Ver-
stöße gegen die Wortbildung, die Dehmels Unwillen erregen: „Das ble-
cherne ,Tichter-e' in den ,schwach' flektierten Verbalformen", das schon
Liliencron verwarf1), lehnt er als „vorgefaßte altfränkische Geste, die
behaglich Stimmung machen soll", ab. (1. 7. 10.) Nur einmal, soviel
ich sehe, findet ein solches -e ausdrücklich Gnade vor seinen Ohren: In
des alten Claudius Versen „Der Wald steht schwarz und schweiget. . ."
möchte er „um keinen Preis das Dichter-e missen!" (1.2. 92.) Es ist
wohl zu bedenken, daß dies Dichter-e noch zur Zeit der Klassiker auch
in der Prosa durchaus üblich war. Heut allerdings muß es jedem Dilet-
tanten als metrische Flicksilbe herhalten.
Getadelt hat Dehmel ferner „die schauderhaften Abhackungen der
wichtigsten deutschen Endungen, z. B. wenn uns einer sagen will, daß
er ein Mädchen liebte, und anstatt dessen drucken läßt: ,Ein Jüngling
lieW ein Mädchen'." Auch diese Apokope geschieht zugunsten der
poetischen Form auf kosten der Sprachreinheit und -klarheit; meist dient
sie dazu, das Metrum zu erfüllen, seltener, den Hiatus zu vermeiden.
Wo sie sprachüblich ist, und der Sinn eindeutig bleibt, da benutzt sie
auch Dehmel; z. B. „Lied an meinen Sohn": „erwacht' ich"; Imperative
schreibt er, durchaus sinnvoll, einfach ohne Apostroph; ebda.: „horch",
„hör". Kühn ist die mehrfach auftretende Form „wolln", die sonst nur
in der Alltagsrede zu hören ist.
Nicht besonders beachtet zu haben scheinen Dehmel und Liliencron
eine andere Art Apostrophierung: die scheußliche Verschleifung der
i) Sämtl. Wke. V, 167; VIII, 64.