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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0303
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BESPRECHUNGEN.

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Mannes stets wieder lebendig. Da sitzt er, selber lesend oder die von den Schülern
ihm zugetragenen Hilfsarbeiten prüfend, und der Stoff schwillt gewaltig an; einmal
versucht er, mit Hilfsmitteln der Systematik seiner Herr zu werden, dann glaubt
er das Heil in der Geschichtswissenschaft zu finden; wenn er zum Schreiben
kommt, so werden Stücke fertig, zum Teil in sich geschlossen und von großer
Bedeutung, aber ein Ganzes will sich nicht runden. Während zur selben Zeit
Wundt in stätiger Folge Bände über Bände veröffentlichte, in denen alle Gsbiete
der Philosophie sachkundig und übersichtlich dargestellt wurden, konnte sich
Dilthey durch den Berg des Wissens nicht hindurcharbeiten. Besonders aufschluß-
reich ist das Vorwort Paul Ritters, der den 3. Band herausgegeben hat: hier öffnet
sich der Einblick in das tiefste Wesen Diltheys.

Die geschichtlichen Untersuchungen beziehen sich zunächst auf das Zeitalter
Leibnizens. Von künstlerischen Erscheinungen werden Opitz, Fleming, Gryphius,
Grimmelshausen, aber auch die Oper und die große Kirchenmusik besprochen.
Diltehey will zeigen, wie sich auf diesen Gebieten die von Leibniz erreichte Verbin-
dung vorbereitet, nämlich die Zusammenfassung von Renaissance, fortgeschrittenem
Christentum und moderner Wissenschaft zu einer einheitlichen und universalen
Weltanschauung. Die Werke der Musik und Literatur enthalten, gleich den Schöp-
fungen des philosophischen Geistes, „ein persönlich errungenes Bewußtsein von der
Bedeutung der Welt und des Lebens". Aber auch den starken Künstlerpersönlich-
keiten mangelt „die freie Beweglichkeit des Gefühls, die Weite der Erlebnisse". In-
dem Dilthey solche Bestimmungen trifft, stützt er sch auf Kennzeichnungen der
einzelnen Dichter, die ausgezeichnet sind durch Verallgemeinerung und Verfeine-
rung einzelner Züge, aber doch manchmal Breite und Tiefe stofflicher Unter-
mauerung vermissen lassen. Es sind „Charakteristiken" aus der Zeit und in der
Art Treitschkes und Erich Schmidts; sie sind glänzend geschrieben und treffen
Wesentliches; nur fehlt ihnen eine gewisse Körnigkeit, es fehlt ihnen das Block-
hafte, das wir Heutigen gern sehen wollen.

Eine Abhandlung über Friedrich den Großen und die deutsche Aufklärung
enthält einiges auch über die Literatur der Zeit. Den Mittelpunkt der Betrachtung
sehe ich in folgenden Sätzen: „Von den Gedichten Lessings bis in das Leipziger
Liederbuch Goethes reicht die Macht der Lebensstimmung Voltaires und Friedrichs,
das Bewußtsein der Souveränität, das in der Galanterie mit der Liebe spielt, der
männlichen Kultur der Freundschaft, der Herrschaft des Verstandes über das Leben.
Das Urteil Lessings über Goethes „Werther" ist der völlig gerechtfertigte Ausdruck
dieser männlichen Geisteshaltung. Die drei großen deutschen Schriftsteller, welche
dieser Lebensverfassung Ausdruck gegeben haben, waren Friedrich, Lessing und
der jugendliche Kant."

An die Bruchstücke systematischen Inhalts hat Groethuysen eine schwere und
entsagungsvolle Arbeit gewendet. Da Dilthey immer eine Gesamtanschauung vor-
schwebte, so schrieb er nicht etwa unzusammenhängende Aphorismen nieder, sondern
er hatte das Ganze und sogar seine Gliederung fest im Auge, wenn er Aufzeich-
nungen machte oder einer Hilfskraft diktierte. Aber je mehr die Notizen sich
häuften, desto mehr verwirrten sie sich auch, und so ist für den Herausgeber, ja
selbst noch für den Leser eine oft gar nicht zu lösende Aufgabe zurückgeblieben.
Jedenfalls sind wir bei dieser Sachlage berechtigt, Einzelnes herauszuheben. Da
gibt es ein paar Seiten über das musikalische Verstehen. Auf ihnen finden sich
Sätze voll tiefer Einsicht. Etwa dieser: „Das Objekt des historischen Studiums der
Musik ist nicht der hinter dem Tonwerk gesuchte Seelenvorgang, das Psycholo-
gische, sondern das Gegenständliche, nämlich der in der Phantasie auftretende Ton-

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