190
BEMERKUNGEN.
wohl unter dem Widerstand des Schicksals seufzen, aber tragische Entschließungen
lagen ihnen gewiß ganz fern. Nur eines mochten beide Gattungen miteinander
gemein haben; wir könnten es uns am ehesten deutlich machen, wenn wir von all-
gemeinen religionswissenschaftlichen Erwägungen her der liturgischen Vorführung
näher kommen. Jeder derartige Ritus gehört in das große Gebiet der magi-
schen Betätigungen hinein. Immer soll hier auf sakramentale Weise, d. h.
unter einem eigenartigen Ineinandergreifen von Wort und Gebärde mit Ahnung
und Bedeutung eine besondere geistige Wirkung vermittelt werden. Wort und Ge-
bärde werden hier ihres „eigentlichen" Charakters entkleidet oder besser von ihrer
konventionellen Verflachung und banalen Verständlichkeit wieder erlöst und zu
Symbolen tief verwurzelter Beziehungen zwischen dem Menschen und den geistigen
Weltschichten gestaltet, in und an denen sein „Wesentliches'' sich entfaltet. Am
deutlichsten werden diese Vorgänge noch dem modernen Menschen an den Berich-
ten des Neuen Testaments von den Heilwundern Jesu: da finden wir das Ineinander-
greifen innerster Geistesbewegung (Ergrimmen des Geistes, Blick zum Himmel),
äußerer, vorbereitender Handlung („Spützen" auf den Boden, Vermischung von
Speichel und Erde), symbolischer Berührung (Bestreichung des blinden Auges oder
des sonst verletzten Organs) und wirksamen Heilspruchs. Hier geht es um ein-
malige, individuelle Beeinflussung, um die Behebung körperlicher Gebrechen, die
ein Heils verlangen unmittelbar ei wecken (besonders wenn der „Heiland" naht) und
bei denen sich leicht eine magische Atmosphäre bildet, wo sich der Leidende, der
Heilsbnnger und der „Umstand" im Bereich übersinnlicher, überempirischer Wir-
kungen fühlen. Anders steht es bei den liturgischen Feiern. Auch da mag das
Heilsverlangen bei allen irgendwie vorhanden sein; aber die organisierte Heils-
verkündigung muß für jeden Einzelnen auf dem Umweg über das Alassenerlebnis
fruchtbar gemacht werden, ohne daß für ihn eine besondere individuelle Form ge-
prägt werden könnte. Hier wird, woran alle teilhaben sollen, in einen höchst symbol-
kräftigen Vorgang übertragen, der darum schon von der Wirklichkeit so weit ab-
gelöst wird, daß eine künstlerische Gestaltung selbst für seine rituelle Wirksamkeit
fast gebieterisch gefordert wird. Ob die symbolischen Vorgänge aus einem vorhan-
denen Mythos stammen, ist im allg. sehr fraglich. Sehr häufig scheint die ritenbildende
Phantasie mit einer ganz freien und großen Stilisierung natürlicher und einlacher
menschlicher Vorgänge der Mythenbildung vorauszugehen und sie geradezu anzu-
regen. Der Mythos verlangt schon eine viel stärkere dichterische, besonders epische
Einstellung. Der Ritus aber ist von poetischer „Ablösung" noch fern. Er drängt
die Teilvorgänge zusammen in eine bestimmte Richtung auf ein letztes, übergreifen-
des und zugleich sehr reales Ziel. Zu der sachlichen Verkettung der Teile tritt also
eine fortwährende Austiefung, tritt ein Mitschwingen höherer Zusammenhänge.
Nahes und Fernes, Irdisches und Unbegreifliches ballen sich hier aufs nachdrück-
lichste zusammen und es ist Sache der Darstellung, dieses Ineinander, diese steten,
tiefen Beziehungen augenscheinlich und fühlbar zu machen. Dabei spielt dann die
ausgearbeitete Gebärde im Sinne der Darstellung eines mythischen Vorganges zum
mindesten eine ebenso große Rolle, wie die den Vorgang teils begründenden und
erklärenden, teils vollendenden Worte (£»),uaxa). Eine solche Zusammenballung wir-
kender Energien aus verschiedenen Schichten des „Lebens", eine solche Gruppierung
von zusammenhängenden Teil Vorgängen um einen Gipfel, von dem aus wieder alles
sein Licht empfängt, nennen wir in der Literaturwissenschaft eine Szene. Die
rituelle, die epische und die dramatische Szene unterscheiden sich voneinander nur
durch ihre „Lebendigkeit" und durch die Bedeutung und die Ausdruckskraft, welche
der Bewegung als solcher dabei zugebilligt wird. Aber auch die Szene in ihrer
reinsten Form, eben die dramatische, hat sich aus ursprünglicheren Gebilden erst
J
BEMERKUNGEN.
wohl unter dem Widerstand des Schicksals seufzen, aber tragische Entschließungen
lagen ihnen gewiß ganz fern. Nur eines mochten beide Gattungen miteinander
gemein haben; wir könnten es uns am ehesten deutlich machen, wenn wir von all-
gemeinen religionswissenschaftlichen Erwägungen her der liturgischen Vorführung
näher kommen. Jeder derartige Ritus gehört in das große Gebiet der magi-
schen Betätigungen hinein. Immer soll hier auf sakramentale Weise, d. h.
unter einem eigenartigen Ineinandergreifen von Wort und Gebärde mit Ahnung
und Bedeutung eine besondere geistige Wirkung vermittelt werden. Wort und Ge-
bärde werden hier ihres „eigentlichen" Charakters entkleidet oder besser von ihrer
konventionellen Verflachung und banalen Verständlichkeit wieder erlöst und zu
Symbolen tief verwurzelter Beziehungen zwischen dem Menschen und den geistigen
Weltschichten gestaltet, in und an denen sein „Wesentliches'' sich entfaltet. Am
deutlichsten werden diese Vorgänge noch dem modernen Menschen an den Berich-
ten des Neuen Testaments von den Heilwundern Jesu: da finden wir das Ineinander-
greifen innerster Geistesbewegung (Ergrimmen des Geistes, Blick zum Himmel),
äußerer, vorbereitender Handlung („Spützen" auf den Boden, Vermischung von
Speichel und Erde), symbolischer Berührung (Bestreichung des blinden Auges oder
des sonst verletzten Organs) und wirksamen Heilspruchs. Hier geht es um ein-
malige, individuelle Beeinflussung, um die Behebung körperlicher Gebrechen, die
ein Heils verlangen unmittelbar ei wecken (besonders wenn der „Heiland" naht) und
bei denen sich leicht eine magische Atmosphäre bildet, wo sich der Leidende, der
Heilsbnnger und der „Umstand" im Bereich übersinnlicher, überempirischer Wir-
kungen fühlen. Anders steht es bei den liturgischen Feiern. Auch da mag das
Heilsverlangen bei allen irgendwie vorhanden sein; aber die organisierte Heils-
verkündigung muß für jeden Einzelnen auf dem Umweg über das Alassenerlebnis
fruchtbar gemacht werden, ohne daß für ihn eine besondere individuelle Form ge-
prägt werden könnte. Hier wird, woran alle teilhaben sollen, in einen höchst symbol-
kräftigen Vorgang übertragen, der darum schon von der Wirklichkeit so weit ab-
gelöst wird, daß eine künstlerische Gestaltung selbst für seine rituelle Wirksamkeit
fast gebieterisch gefordert wird. Ob die symbolischen Vorgänge aus einem vorhan-
denen Mythos stammen, ist im allg. sehr fraglich. Sehr häufig scheint die ritenbildende
Phantasie mit einer ganz freien und großen Stilisierung natürlicher und einlacher
menschlicher Vorgänge der Mythenbildung vorauszugehen und sie geradezu anzu-
regen. Der Mythos verlangt schon eine viel stärkere dichterische, besonders epische
Einstellung. Der Ritus aber ist von poetischer „Ablösung" noch fern. Er drängt
die Teilvorgänge zusammen in eine bestimmte Richtung auf ein letztes, übergreifen-
des und zugleich sehr reales Ziel. Zu der sachlichen Verkettung der Teile tritt also
eine fortwährende Austiefung, tritt ein Mitschwingen höherer Zusammenhänge.
Nahes und Fernes, Irdisches und Unbegreifliches ballen sich hier aufs nachdrück-
lichste zusammen und es ist Sache der Darstellung, dieses Ineinander, diese steten,
tiefen Beziehungen augenscheinlich und fühlbar zu machen. Dabei spielt dann die
ausgearbeitete Gebärde im Sinne der Darstellung eines mythischen Vorganges zum
mindesten eine ebenso große Rolle, wie die den Vorgang teils begründenden und
erklärenden, teils vollendenden Worte (£»),uaxa). Eine solche Zusammenballung wir-
kender Energien aus verschiedenen Schichten des „Lebens", eine solche Gruppierung
von zusammenhängenden Teil Vorgängen um einen Gipfel, von dem aus wieder alles
sein Licht empfängt, nennen wir in der Literaturwissenschaft eine Szene. Die
rituelle, die epische und die dramatische Szene unterscheiden sich voneinander nur
durch ihre „Lebendigkeit" und durch die Bedeutung und die Ausdruckskraft, welche
der Bewegung als solcher dabei zugebilligt wird. Aber auch die Szene in ihrer
reinsten Form, eben die dramatische, hat sich aus ursprünglicheren Gebilden erst
J