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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Kuhn, Helmut: Die aristotelische Katharsis als Problem der neueren Aesthetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0076
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BEMERKUNGEN.

hunderts bei Tyrwhitti). Die künstliche Aufregung der Affekte soll ihre allmäh-
liche Abschwächung zur Folge haben. Heinsius, der übrigens im Unterschied zu
seinen Vorgängern expiatio übersetzt, gibt diesem Oedanken charakteristischen Aus-
druck durch den Vergleich mit dem durch häufigen Anblick von Wunden ab-
gestumpften Chirurgens).

Der andere Gesichtspunkt, den wir als „philosophische Beruhigung" bezeich-
neten, ist tatsächlich in vielen Fällen von dem ersten kaum zu trennen und findet
sich meist mit ihm verbunden. Er ist dessen Übertragung von einer gleichsam
mechanischen Wirkung auf das Gebiet der Reflexion. Die Tragödie führt (hierfür
konnte man sich auf Marc Aurel berufen»)) zu Betrachtungen über die Allgemein-
heit des Leidens und weist uns so, ein eindringliches Symbol menschlicher Schwäche,
den Weg zur Unerschütterlichkeit des Weisen. In Trivialisierung dieses stoischen
Gedankens meint Robertellus (dessen Kommentar die auflebende Beschäftigung mit
des Aristoteles Poetik einleitete): die Vorstellung, daß wir nur leiden, was andere
vor uns litten, gereiche uns zum „gewissesten Trost"*). Das ursprünglich heroische
Pathos der stoischen Weltbetrachtung kann sich schließlich in der Sprache einer
kärglichen Selbstzufriedenheit verlieren. Selbst der Elendeste wird sein Los glück-
lich finden, wenn er es mit dem eines Ödipus oder Agamemnon vergleicht^). Aber
die so verstandene Reinigung der tragischen Affekte führt nicht bloß zu einem all7
gemeinen Standpunkt der Betrachtung — sie veranlaßt auch die unmittelbare Nutz-
anwendung auf unser Handeln. Hören wir, wie sich Dacier über diesen dritten
Gesichtspunkt, die Witzigung, äußert. Nachdem er die Wirkung der Abhärtung
und philosophischen Beruhigung dargelegt hat, fährt er fort: „Mais la tragedie
n'en demeure pas lä. En purgeant la terreur et la compassion, eile purge en meme
temps les autres passions, qui pourraient nous precipiter dans la meme misere, car
en etalant les fautes qui ont attire sur les malheureux les peines qu'ils souffrent,
eile nous apprend ä nous tenir sur nos gardes pour n'y pas tomber, et ä purger et
moderer la passion qui a ete la seule cause de leur perte"5).

Die Neigung der gesamten Renaissance-Poetik, im Dichtwerk ein belehrendes
oder warnendes Exempel der Weltweisheit und Moral zu sehen, findet hier einen
handgreiflichen und, wie man urteilen wird, kunstfremden Ausdruck. Mit verwand-
ten Argumenten hatte Martin Opitz die übersetzte Antigone seinen deutschen
Lesern empfohlen. Die Tragödie soll uns weise "machen im Umgang mit unserer
fortuna: ut sive florentem retinere diligentius sive adversam et jacentem moderatius
erectoque animo ferre discamus6).

Unter allen drei Gesichtspunkten wird die allgemeine Wichtigkeit des Kathar-
sis-Begriffes dadurch erhöht, daß man ihn für gewöhnlich nicht auf die beiden
Affekte Furcht und Mitleid einschränkt. Dies wird besonders deutlich, als Du Bos
es unternimmt, den ästhetischen Genuß aus der Lust an Beschäftigung oder leiden-
schaftlicher Bewegung des Inneren abzuleiten. Um diesem Gedanken seine Gefähr-
lichkeit zu nehmen, muß gezeigt werden, wie die Kunst von dem Schädlichen der
Leidenschaft das Angenehme und darüber hinaus das Nützliche und Heilsame für
sich absondert. Die Leidenschaftsreinigung steht hier in einem Zusammenhang, in

1) Komment., 1794, p. 143.

2) De tragoediae constitutione, 1611, p. 23.

3) Selbstbetrachtungen 11, 6.
i) Komment., 1548, p. 53.

5) Dacier, La Poetique d'A. 1692, p. 79.

e) Vorrede zur Antigone.
 
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